Die Wolga - eine Flusskreuzfahrt durch das „Herz Russlands" mit MS Konstantin Simonow

Unbekanntes und fremdartiges Russland. Land der unermesslichen Weiten, der grenzenlosen Ebenen, gewaltigen Ströme und riesigen Wälder. Seine Kernregion ist das Gebiet des altrussischen Reiches - gleichzeitig eine alte Kulturregion. Ein großer Teil davon ist das Gebiet entlang der Wolga mit seinen zahlreichen Städten – ein Teil des sogenannten „Goldenen Rings", zu dem an erster Stelle St. Petersburg und Moskau gehören - Gründe, die meine Frau und mich im Sommer des vergangenen Jahres dazu bewogen haben, dieses Land näher kennen zu lernen.

Von alters her gilt die Wolga den Russen als „Matuschka - Mütterchen" und so wird sie auch heute noch in Liedern besungen!

Der längste und wasserreichste Strom Europas (3.700 km lang) entspringt auf den Waldaihöhen nord-westlich von Moskau und mündet bei Astrachan in einem 120 km breiten Delta in das Kaspische Meer.

Das Stromgefälle von der Quelle bis zur Mündung beträgt 250 m. Die Oberfläche des Kaspischen Meeres liegt 28 m unter dem normalen Meeresspiegel. Schon bei Wolgograd liegt der Flussspiegel unter dem normalen Meeresniveau.

Nach dem zweiten Weltkrieg wird die Industrialisierung an der mittleren und oberen Wolga forciert - vornehmlich durch den Bau von Stauseen und Kraftwerken im Verlauf des Flusses: Insgesamt acht Staustufen müssen über Schleusen passiert werden. Weitere zwei Stufen befinden sich im Wolga-Moskwa - Kanal.

Feuchte und waldige Gebiete im Norden gehen im Süden vornehmlich auf der linken Flussseite in Steppen und Halbwüsten über. Im mittleren Flussverlauf ist der Unterschied zwischen dem westlichen Bergufer und dem östlichen Wiesenufer sehr ausgeprägt.

Genau so abwechslungsreich wie die Landschaft ist auch die Vielfalt der Völker entlang des Flusses. Neben den Russen (größte Bevölkerungsgruppe) sind vornehmlich im Gebiet der mittleren und unteren Wolga Tataren, Kalmücken, Tschawaschen, Kirgisen u.a. beheimatet. Auch leben in diesen Regionen noch eine Anzahl Menschen deutscher Abstammung, deren Vorfahren von der Zarin Katherina II. in der Zeit von 1764 - 74 ins Land geholt wurden.

Diesem Mosaik entspricht eine Vielfalt an Sprachen und Religionen: Neben russisch-orthodoxen Christen gibt es Buddhisten (Kalmücken) und Muslime, aber auch Anhänger des Animismus (Lat. anima = Seele), Religionsauffassung einer Vielzahl kleiner und kleinster hier lebender Völker.

Seit der Antike diente der Strom als Handelsstraße zwischen Nordeuropa (Nord- und Ostsee) und dem Kaspischen Meer, an dessen Ufern die Karawanen aus dem Iran und China (Seidenstraße) zusammentrafen. Entsprechend waren die Bemühungen der „Vielvölkergruppen" um die Vorherrschaft am Fluss. Es gab zahlreiche Bürgerkriege und zuletzt die Schlacht um Stalingrad (Wolgograd).

Neben den ältesten Wolgastädten wie Jaroslawl und Kostroma mit prachtvollen Kathedralen und Klöstern gibt es auch historisch bedeutende Orte, die jahrzehntelang aus politischen Gründen von der Außenwelt abgeschnitten waren. So etwa Nishnij - Nowgorod (ehemals Gorkij) oder Kasan, aber auch Samara und Saratow u.a.. Diese Städte stehen heute den Besuchern und Reisenden aus aller Welt wieder offen.

Kathedrale im Kreml von Moskau Freitag, 14. Juli 2000

Frankfurt a.M., Wolgograd, Astrachan

Unsere Reise führt uns zunächst mit einer Boing der LFG Condor nach Wolgograd. Herzlicher Empfang mit Brot und Salz unter Mitwirkung der Bordkapelle auf der „MS Konstantin Simonow", die für die kommenden zwei Wochen unser Zuhause sein soll.

Nach dem Abendessen beginnt unsere Schiffsreise in den Süden nach dem 500 km entfernten Astrachan am Beginn des Wolgadeltas - ca. 100 km vom Kaspischen Meer entfernt.

Die Reise führt vorbei teils an Steppe, teils durch fruchtbares Ackerland, das durch die vielen Seitenarme der Wolga bewässert wird: Gemüse, Obst, vor allem Aprikosen etc. - Wie bereits erwähnt liegt Astrachan am Beginn des eigentlichen ca. 150 km breiten Wolgadeltas, 100 km vom Kaspischen Meer entfernt.

Von 1925 bis 1977 ist der Spiegel des Kaspischen Meeres um 27 m gesunken. Seitdem steigt er wieder langsam an. Bislang gibt es noch keine wissenschaftliche Erklärung hierfür.

Die Stadt Astrachan wurde im 15. Jh. als Wehrfestung erbaut und verteilt sich auf 90 Inseln. Sie zählt heute ca. 500.000 Einwohner. Neben Russen (ca. 70 %) leben hier Tataren, Kalmücken, Kirgisen, Buddhisten u.a. und noch ca. 6.000 Deutsche - insgesamt ca. 120 Nationalitäten. (Siehe hierzu Hinweis auf Religionszugehörigkeit u.a. auf Animismus.)

Der zentral auf einem Hügel stehende Kreml (= Stadtburg) mit seinen prunkvollen Kathedralen - wir konnten kurz in einen orthodoxen Gottesdienst hineinschauen und hören - zeugt von der Macht der Zaren nach der Eroberung Astrachans durch die Russen im 16. Jh.

Bekannt ist der große auch sonntags stattfindende Fischmarkt. Meine Frau hat ein Foto machen dürfen und bekam dafür sogar noch einen großen Fisch geschenkt. Wohin damit bei 37°C? Sie hat ihn sofort weiter verschenkt. Der so Beschenkte machte ein reichlich verblüfftes Gesicht.

Ein Ausflug mit einem Motorschiff führte uns weit in das Delta hinein u.a. in riesige Seerosen- und Lotosblumenfelder. Leider hätte es bis zum Aufblühen noch einige Tage gedauert. Ein Fischer reichte ein einzelnes aufgeblühtes Exemplar an Bord und wir konnten das Ausmaß der Größe einer solchen Blume ersehen. Das gesamte Wolgadelta ist Biosphärenreservat und steht unter dem Schutz der UNESCO. - Noch zu erwähnen: Im Delta werden vorwiegend Hecht, Beluga und Stör gefangen. Beluga ist wichtigster Kaviarlieferant (roter Kaviar) und gehört zur Familie der Störe.

Mamajewhügel in Wolgograd mit dem Denkmal der Mutter Heimat



Dienstag, 18. Juli 2000

Wolgograd/vormals Zarizyn

In den frühen Morgenstunden erreichen wir Wolgograd. Die am rechten Wolgaufer liegende Stadt - bis 1960 unter dem Namen Stalingrad bekannt - (bis 1925 Zarizyn) erstreckt sich über eine Länge von 80 km entlang des Flusses und zählt heute 1,2 Mio. Einwohner. Das heutige Stadtgebiet entspricht dem einer modernen Großstadt. Auch Zarizyn wurde als Grenzfestung schon im 15. Jh. gegründet und im letzten Weltkrieg vollkommen zerstört. Die schon von weitem sichtbare 85 m hohe Statue der „Mutter Heimat" auf dem Mamajew-Hügel erinnert an die schlimme Zeit.

Wolgograd früher Stalingrad Mittwoch, 19. Juli 2000
Saratow

„Was machen wir im Sommer
wenn die Wiesenblumen blühen?
- Wir fahren nach Saratow
um die schöne Stadt zu sehen!"

Dieser kleine Vierzeiler sagt bereits einiges über die Stadt Saratow. Zunächst der wunderschöne Ausblick von der Oberstadt auf die im Hitzedunst liegende Stadt Engels auf dem Ostufer der Wolga. Engels ist seit 1965 mit einer der größten Flussbrücken Europas mit Saratow verbunden. Hier beginnt auch das ursprüngliche Siedlungsgebiet der Wolgadeutschen - die, wie schon berichtet im 16. Jh. ins Land kamen; Es erstreckte sich bis nach Samara hinauf; Pokrowsk - später Engels - wurde seine Hauptstadt.

Viel „Deutsches" hat sich in Saratow niedergeschlagen. Viele gut erhaltene aber auch restaurierte alte Bürgerhäuser, eine schöne Fußgängerzone, in der sich das Deutsche Generalkonsulat befindet, eine Universität, ein Konservatorium. Auch mehrere Kathedralen sind zu erwähnen.

Donnerstag, 20. Juli 2000

Samara

Wie viele andere Städte wurde auch Samara als Schutz der Reichsgrenzen gegründet. In einer kleinen Kathedrale konnten wir an einem Gottesdienst teilnehmen. Prachtvoll die gesangliche Darstellung der Liturgie.

In der Stadt gibt es eine kleine evangelisch-lutherische Gemeinde. In der St. Georgs-Kirche wurden wir von dem aus Württemberg stammenden Pfarrer begrüßt. Seine Kinder gehen hier zur Schule. Er bedauert die vermehrte Abwanderung von Wolgadeutschen nach Deutschland.

Bekannt ist auch das Gorkij-Theater mit seinen in der Sonne leuchtenden Backsteinfassaden. Der Schriftsteller Gorkij hat längere Zeit hier gewohnt.

(Anmerkung: Niemandem war bekannt, dass Stalin im letzten Krieg gegen Deutschland in Samara einen unterirdischen Bunker bauen ließ, u.a. mit einem persönlichen Arbeitszimmer 37 m tief unter der Erde. Der gesamte Regierungssitz sollte nach hier verlegt werden.)

Fischmarkt in Astrachan
Freitag, 21. Juli 2000

Simbirsk/Uljanowsk

Im 16. Jh. gegründet unter dem Namen Simbirsk, spielte die Stadt zunächst im Handel mit Asien eine wichtige Rolle, verlor jedoch später an Bedeutung. Seine heutige Berühmtheit verdankt sie dem hier 1870 geborenen Revolutionsführer Lenin. Sein richtiger Name war Wladimir Uljanow. Seine Mutter war Deutsch-Schwedin. Das von der kinderreichen Familie zuletzt bewohnte Haus ist heute Museum, wie überhaupt der ganze Stadtkern eine Lenin-Gedenkstätte ist. Zu Ehren von Lenin wurde Simbirsk bereits 1924 in Uljanowsk umbenannt.

Samstag, 22 Juli 2000

Kasan

Die Wolga fließt hier durch die autonome Republik Tartastan, die seit 1992 souveräner Staat im russischen Staatenbund ist, mit der Hauptstadt Kasan am östlichen Flussufer. Die Stadt zählt ca. 1 Mio. Einwohner aus rund 70 Nationalitäten, hauptsächlich Tartaren (50 %), die mit Russen und Sunniten (keine Schiiten) einträchtig zusammen leben. In den umliegenden Wäldern gibt es noch viel Wild, meist Wildschweine und Elche, was in der Stadt an vielen Stellen bei Denkmälern, in Parkanlagen u.a. zum Ausdruck kommt. Auch ist das Khanat reich an Erdölvorkommen.

Kathedrale in Kasan Symbol dieser Stadt, die im 16. Jh. gegründet wurde, ist der mächtige Kreml, weitgehend dem Moskauer Kreml nachempfunden. Die Gründungszeit steht im Zusammenhang mit der Eroberung des Khanats Tartastan durch Russland im 15. Jh., nachdem immer wieder Fremdvölker an der Wolga Fuß zu fassen versuchten. Zum Gedenken an den Sieg wurde die berühmte Basilius-Kathedrale am „Roten Platz" in Moskau erbaut.

Durch Zufall konnten wir miterleben, wie der Khanatspräsident mit Eskorte in einem schwarzen Daimler seinen Regierungssitz im Kreml verließ. Eine Vielzahl von Minaretten prägt das Gesicht dieser Stadt. Bekannt ist die Martschani Moschee. Es gibt aber auch Kathedralen. Die berühmteste ist die Peter-Paul-Kathedrale, derzeit im äußerlichen Renovierungsstadium.

Es gibt eine Reihe von Universitäten. Über längere Zeit lehrte hier auch der Naturforscher Alexander von Humboldt. Mit deutschen Universitäten besteht ein reger Austausch. Viele schöne Bürgerhäuser und Parks runden das Bild dieser Stadt ab.

Interessant ist die Fußgängerzone mit ihren Geschäften und Restaurants.

Wolgaschiff Ms Konstantin Simonov Sonntag, 23. Juli 2000

Nischnij-Nowgorod (Gorkij)

Am Zusammenfluss von Wolga und Oka ist sie heute mit 3. Mio. Einwohnern die drittgrößte Stadt Russlands.

Zu den Sehenswürdigkeiten dieser Stadt zählen der große Kreml aus dem 14. Jh., die russische Zentralbank mit ihrer von traditionellen Motiven inspirierten Innenausstattung, sowie die Alexander-Newski-Kathedrale und das Gorkij-Museum. 1980 - 1986 war die Stadt Verbannungsort des bekannten Atomphysikers Andrej Sacharow mit seiner Frau Elena Bonner.

Imponierend auch hier der alte Stadtkern von Nowgorod. Das linke Wolgaufer gehört der Industrie - lange Jahre von der Außenwelt abgeschottet - Raumfahrttechnik - und heute Automobilbau. Bekannt sind die schwarzen Limousinen der Marke Wolga für die Regierungs .

Montag, 24. Juli 2000

Jaroslawl

Die bereits im 9. Jh. gegründete Stadt gehört wie die bereits hinter uns liegende Stadt Kostroma, an der wir nur kurz anhielten, und dem noch vor uns liegenden Uglitsch zum Goldenen Ring, einer Gruppe historischer Städte im Gebiet nordöstlich von Moskau. Im Zentrum der Stadt das Erlöserkloster aus dem 12. Jh. - eines der größten und wohlhabendsten in ganz Russland. Geschäfts- und Bürgerhäuser zeugen von der Bedeutung, die auch Jaroslawl dank seiner Lage an den Handelswegen aus dem Mittleren Osten und aus Europa besaß. Um die Mitte des 17. Jh. war Jaroslawl nach Moskau zweitgrößte Stadt des Reiches. Neben Museen für Kunst und Geschichte besitzt die Stadt das älteste Theater Russlands.

Unsere Fahrt geht weiter vorbei an der Stadt Rybinsk durch den gleichnamigen Stausee nach Uglitsch.

Die Kathedrale von Jaroslawl Dienstag, 25. Juli 2000

Uglitsch

Uglitsch ist eine Kleinstadt geblieben, aber eine der ältesten Russlands. Außerhalb des mächtigen Kremls mit mehreren Kathedralen birgt auch diese Stadt eine Reihe schöner Bürgerhäuser, Kathedralen und Museen - das wichtigste ist das Wodkamuseum. Uglitsch gehört wie auch Jaroslawl zum Goldenen Ring.

Mittwoch, 26. Juli 2000

Moskau

Wir passieren den 128 km langen Moskwa-Wolga-Kanal über zwei Staustufen und erreichen exakt 10.30 Uhr den nördlichen Flusshafen von Moskau. Am Anleger stehen zwei Herren mit einem Transparent Renate und Werner Norbeteit steht darauf zu lesen. Es waren Vater und Sohn einer Familie, mit der wir schon seit neun Jahren im brieflichen Kontakt stehen, die wir bisher jedoch noch nicht persönlich kennen. Wir werden noch einige Tage mit unseren Freunden in der russischen Hauptstadt verbringen. Unsere Reise aber durch das Herz Russlands mit vielen unvergesslichen Eindrücken, vor allem auch aus der russischen Geschichte, ist zu Ende.

Renate und Werner Norbeteit