Ein Unfall, der Licht ins
Dunkel brachte
Geschafft! Zufrieden schloss Eva die Tür ihres kleinen Buchladens ab.
Heute hatte sie ein gutes Geschäft gemacht.
In der letzten Woche vor Weihnachten war stets großer Andrang in ihrem
kleinen Laden.
Jeder wollte schnell noch ein Buch zum Fest erstehen.
Eva freute sich nach dem Stress des Tages auf ihren verdienten Feierabend.
Sie war gerade im Begriff, in die Elisabethstraße einzubiegen, als auf der
gegenüberliegenden Straßenseite ein Auto mit quietschenden Bremsen gegen
den Bürgersteig rutschte. Ein junger Mann sprang aus dem Auto und kniete
sich auf den Bürgersteig.
Eva ahnte, dass da etwas passiert sein musste. Sie rannte auf die andere
Straßenseite, und da sah sie schon die alte Dame auf dem Gehsteig liegen.
Bewusstlos, wie es schien.
Der junge Mann war total kopflos. Er wollte ihr laufend den Hergang des
Unfalls erklären, doch Eva schrie ihn an, er solle lieber den Rettungsdienst
und die Polizei alarmieren. Sie werde sich inzwischen um die Verletzte kümmern.
Als der Krankenwagen eintraf, war Eva sofort bereit, mit ins Krankenhaus zu
fahren, um die Aufnahmeformalitäten für die alte Dame zu erledigen, da diese
sofort in die Notaufnahme gebracht werden musste.
Bei der Personalienaufnahme erfuhr Eva Namen und Herkunft der alten Dame.
Kein Zweifel, es handelte sich um die bekannte jüdische Schriftstellerin
Julia Steinberg.
Eva hatte nicht geahnt, dass die bekannte Autorin in ihrer Stadt lebte.
Im Zusammenhang mit dieser Frau drängte sich blitzartig eine Begebenheit in
ihr Bewusstsein.
Eva erinnerte sich jetzt genau. Es war an einem Sommernachmittag gewesen.
Sie war gerade dabei, Neueingänge von Büchern in ihr Schaufenster zu stellen,
als ganz unerwartet ihr Vater im Geschäft erschien.
Sie hatte gerade ein Buch von dieser Julia Steinberg mit dem Titel,
"Wie ich dem Holocaust entkam", in der Hand, als ihr Vater auf sie zustürzte,
ihr das Buch aus der Hand riss, und wie gebannt auf den Umschlag des Buches
starrte, worauf die Autorin zu sehen war.
Er stammelte nur: "Sie lebt"... weiter kam er nicht, denn da hatte er wieder
einen seiner häufig auftretenden Herzanfälle.
Eva erinnerte sich, dass sie ihm sofort seine Herztropfen verabreicht
hatte, die er für den Notfall immer bei sich trug.
Der Arzt, der ihn danach untersuchte, hatte damals zu ihr gesagt, dass
jede neuerliche Aufregung den Tod für ihn bedeuten könne. Deshalb hatte
sie ihn danach nicht auf den Vorfall hin angesprochen.
Einen Monat später war er bereits tot.
Neben seinem Sessel, in dem er gestorben war, fand Eva ein Foto, das ihren
Vater in jungen Jahren mit einem hübschen dunkelhaarigen Mädchen in
glücklicher Umarmung zeigte.
"Weihnachten 1941" stand auf der Rückseite.
Evas Mutter hatte der Vater erst viel später kennengelernt. Das Glück
war nur von kurzer Dauer, denn ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben.
Eva würde wohl nie erfahren, wer die junge Frau auf dem Bild mit ihrem
Vater war. Oder doch...?
Die Aufnahmeschwester riss Eva aus ihren Gedanken, indem sie sie fragte,
ob sie mit der Verunglückten verwandt sei.
"Nein", erwiderte Eva, "ich war Zeugin des Unfalles".
"Darf ich mich morgen nach ihrem Befinden erkundigen", fragte Eva beim Weggang.
"Natürlich, wenn die Patientin wieder bei Bewusstsein ist, dürfen sie zu ihr."
"Ja, dann bis morgen", mit diesen Worten verabschiedete sich Eva von der Schwester.
Nachdenklich verließ sie das Krankenhaus und trat nun zum zweiten Mal den Heimweg an.
Eva beschäftigte der Gedanke, ob das junge Mädchen auf dem Bild ihres
Vaters und diese Julia Steinberg identisch seien?
Am Nachmittag des nächsten Tages machte sich Eva erneut auf den Weg ins Krankenhaus.
In der Anmeldung erfuhr sie, dass Frau Steinberg nur eine leichte
Gehirnerschütterung davon getragen hatte und sich auf dem Weg der
Besserung befand.
Als Eva die Tür zum Krankenzimmer öffnete, lag Frau Steinberg zwar noch
mit einem Kopfverband im Bett, doch sie machte bereits wieder einen
munteren Eindruck.
"Sie sind sicher die junge Frau, die mich nach meinem Unfall ins Krankenhaus
begleitet hat", beginnt Julia Steinberg sofort das Gespräch und hält Eva dabei
ihre rechte Hand entgegen.
"Lassen Sie mich Ihnen danken", dabei drückt sie Evas Hand fest. "Ich war
einfach zur rechten Zeit da, um zu helfen", erwidert Eva daraufhin, "und
ich bin froh, dass gerade ich Ihnen, Frau Steinberg, helfen durfte."
"Ach ja, meinen Namen kennen Sie ja von den Anmeldeformularen". "Und von
Ihren Büchern", vollendet Eva den Satz schnell.
"Sie kennen meine Bücher?" fragte Julia Steinberg verwundert. "Ja, ich
habe alle Ihre Bücher und erschütternden Zeitdokumente über die Judenverfolgung
gelesen. Man kann kaum glauben, dass diese schrecklichen Greultaten
Menschenhirnen entsprungen sein sollen".
"Leider überbot die Wirklichkeit meine Bücher noch um vieles", sagte
Julia Steinberg leise.
"Ich freue mich aber, dass Sie meine Bücher gelesen haben, denn ein
Großteil der Jugend interessiert sich nicht mehr dafür, was während der
Nazizeit wirklich geschah".
"Da muss ich Sie korrigieren, Frau Steinberg, denn gerade jetzt, wo
Rechtsradikalismus zunimmt, wächst auch die Solidarität gegen
Ausländerfeindlichkeit und Judenhass, gerade unter den Jugendlichen,
denn diese jungen Menschen haben aus den Fehlern ihrer Vorfahren gelernt."
"Es ist gut, so etwas zu hören, das gibt Kraft weiterzumachen, ich dachte
gerade vorhin daran, ehe Sie zur Tür hereintraten, dass es wohl nicht weiter
schlimm gewesen wäre, hätte ich den Unfall nicht überlebt. Aus der großen
Familie, aus der ich stamme, hat außer mir keiner den Holocaust überlebt.
Im Familienrat wurde damals beschlossen, dass ich nach Amerika gebracht
werden sollte, um der Nachwelt, dank meiner schriftstellerischen Fähigkeiten,
zu berichten, was wirklich geschah."
"Unter Lebenseinsatz wurden mir die Berichte und Dokumente, teils über
Drittländer, zugestellt.
Die Bücher sind geschrieben, meine Mission wäre also erfüllt, niemand,
außer ein paar Wohltätigkeitsorganisationen, denen ich jedes Jahr erhebliche
Schecks zukommen lasse, würden mich vermissen."
"Doch, ich, Eva Bruckner, eine kleine Buchhändlerin, würde Sie, kaum dass
ich Sie kennengelernt habe, sehr vermissen. Das soll gleichzeitig eine
Vorstellung sein, denn durch unser angeregtes Gespräch bin ich gar nicht
dazu gekommen."
Bei dem Namen Bruckner zuckten Julia Steinbergs Augenbrauen in die Höhe,
es folgten aber keine weiteren Regungen, da im gleichen Augenblick die
Schwester das Ende der Besuchszeit verkündete.
Eva verabschiedete sich schnell und versprach, am nächsten Tag wiederzukommen.
Als sich die Tür hinter Eva Bruckner geschlossen hatte, schloss Julia
Steinberg erschöpft die Augen, das Reden hatte sie doch mehr angestrengt,
als sie sich eingestehen wollte.
Außerdem beschäftigte sie der Name Bruckner sehr.
Sollte diese junge Frau in irgend einer Weise mit Thomas Bruckner verwandt sein?
Der Name Bruckner kam häufig vor, sagte sie sich, doch da waren die blauen
Augen der jungen Frau, die sie nicht losließen.
Es waren die gleichen wachen Augen, wie sie Thomas hatte.
Mit einem Mal war in Julia Steinberg die Vergangenheit wach. Sie war
neunzehn und unsterblich in den Studenten Thomas Bruckner verliebt. Er
studierte Germanistik und sie Philosophie.
Jede freie Minute verbrachten sie gemeinsam.
Sie waren so in ihre Liebe eingesponnen, dass sie die heraufziehende braune
Gefahr einfach ignorierten.
Als jedoch immer mehr Juden mit unbekanntem Ziel abtransportiert wurden,
konnte auch sie die Augen vor der Wahrheit nicht mehr verschließen. Sie
musste sich von ihrem Thomas trennen, denn er war Arier, und es hätte für
ihn schlimme Folgen gehabt, hätte man erfahren, dass er mit einer Jüdin
zusammen war.
Ihr kam der unvergessliche Weihnachtsabend 1941 in den Sinn. Ein kleines
Foto war alles, was davon geblieben war.
Am nächsten Morgen war sie dann mit ihrer Familie unter falschem Namen
nach Holland gereist.
über große Umwege wurde sie weiter nach Amerika gebracht.
Trotz größter Vorsicht wurde ihre Familie in Holland aufgespürt und in
ein Konzentrationslager gebracht, wo keiner der Familie überlebte.
Sie musste ihren Thomas verlassen, um ihn zu retten, denn freiwillig hätte
er sich nie von ihr getrennt.
Unsanft wurde sie in die Wirklichkeit zurückgeholt, als eine junge
temperamentvolle Schwester die Tür aufriss und ihr das Fieberthermometer
reichte.
Eva hatte eben einen herrlichen Strauß Christrosen gekauft und strebte
nun mit schnellen Schritten dem Städtischen Krankenhaus zu.
Was würde das Gespräch mit Frau Steinberg heute bringen? Würde es einen
Zusammenhang mit ihrem Vater geben?
All diese Fragen schwirrten Eva im Kopf herum, bevor sie das Krankenzimmer
von Frau Steinberg betrat.
"Da sind Sie ja endlich", empfing diese Eva glücklich. "Sie glauben gar
nicht, wie ich auf Sie gewartet habe."
"Ich konnte es auch kaum erwarten, Sie zu sehen", erwiderte Eva freudig,
"und ich sehe auch keine Spur von Resignation mehr in Ihrem Gesicht, Sie
müssen weiter schreiben und wenn auch nur ein Körnchen Ihrer Mahnungen in
den Köpfen der Menschen, und ganz besonders in den Köpfen der Jugendlichen
aufgeht, es darf einfach nichts unversucht bleiben."
Leiser fuhr Eva fort: "Einem Menschen sind Sie es ganz besonders schuldig,
nie mit dem Schreiben aufzuhören, - meinem Vater."
Bei diesen Worten zog Eva das kleine Foto aus der Tasche, worauf ihr Vater
mit einem jungen Mädchen vor einem Weihnachtsbaum zu sehen war und reichte
es Julia Steinberg hin.
Julia Steinberg blickte lange auf das Foto, dann schloss sie schnell die
Augen, doch unter geschlossenen Lidern konnte sie die Tränen nicht verbergen.
"Lebt er noch?" kam es leise von ihren Lippen.
"Nein, mein Vater ist vor einem halben Jahr gestorben", antwortete Eva.
"Als ich ihn damals fand, saß er in seinem Sessel, als ob er schliefe,
sein Gesichtsausdruck sah gelöst und glücklich aus. Dieses kleine Bild,
das sie in den Händen halten, war seiner Hand entglitten und lag auf dem
Teppich.
Ich habe immer geahnt, dass es in seinem Leben eine Frau gab, die ihm
mehr als meine Mutter bedeutet hatte. Heute weiß ich, er hatte nie
aufgehört Sie zu lieben."
In diesem Augenblick wurde beiden Frauen klar, dass sie ihren weiteren
Lebensweg gemeinsam gehen würden.
Christine Neubert