*** Geschenk der Heiligen Nacht ***

Von Carmen Lange
Wie jedes Jahr setzte unsere Familie voraus, dass wir den Heiligabend gemütlich bei uns feiern. Erst das traditionelle Essen und danach die Bescherung, die sich unsere Kinder schon sehnlichst herbeiwünschten. Auf die festliche Beleuchtung der Wohnung und das gemeinsame Singen haben wir uns immer sehr gefreut. In diesem Jahr hatte sich aber leider alles in eine andere Richtung entwickelt. Es war so viel passiert. Unsere heile Welt gab es nicht mehr.

Ich hatte wirklich nicht die Nerven, den Abend mit alten Geschichten und "du hast gesagt" und "ich habe gemeint" zu verbringen. An diesem Heiligabend würde also jeder seine eigenen Wege gehen.

Die Dunkelheit brach herein und ich war wirklich allein. Jetzt fühlte ich die Einsamkeit kommen, wie sie in mir hoch kroch und sich langsam in mir breit machte. Nach reiflicher überlegung stand ich auf, um einen Spaziergang zu machen. Ich zog meine wärmste Jacke mit dicker Kapuze an und ging aus dem Haus. Ein Blick von der anderen Straßenseite zu unseren Fenstern, machte mich etwas froh. Den Weihnachtsbaum und die Lichterbögen hatte ich nicht ausgeschaltet. Durch die festliche Beleuchtung wollte ich mich nach meinem Spaziergang begrüßen lassen.

Ein kleines Stückchen Mond lugte bereits hinter unserem nahegelegenen Wald hervor und ließ den leicht verharschten Schnee aufblitzen, der unter meinen dicken Stiefeln krachte. Es roch nach noch mehr Kälte und Schnee, und ich hoffte, dass es wieder anfangen würde zu schneien. Denn ich sah gern den weißen Flocken zu, wie sie leicht tänzelnd auf die Erde niederfielen. Doch dafür war es heute möglicherweise zu kalt. Ich sah zum Himmel auf und es schien, als blinkten mir einige Sterne aufmunternd zu. Ob auch ein Schutzengel für mich darunter war? Wenn ja, dann schlief er sicherlich, wie schon seit vielen Monaten.

Aus der Ferne hörte ich Glocken läuten. Es öffneten sich einige Haustüren und fröhliche Kinder mit ihren Eltern, Großeltern und Geschwistern machten sich auf den Weg in den Gottesdienst. Sie hatten ihre Häuser und Wohnungen verlassen und wie ich die elektrische Weihnachtsbeleuchtung in den Fenstern und vor ihren Häusern nicht ausgeschaltet. Dadurch gab es kaum ein Stück unbeleuchteter Straße. Es war schön die unterschiedlichen Festbeleuchtungen zu betrachten. Ein Herz, in einem Weihnachtsstern befestigt, rührte mich besonders.

Ich dachte darüber nach, ob die Menschen dort wirklich glücklich zusammen lebten. Oder hatten sie sich vielleicht nur abgefunden mit Dingen, die sie nicht ändern konnten oder wollten? Ich werde es wohl nie erfahren. Einer kleinen Gruppe Spaziergängern wünschte ich so fröhlich wie es mir möglich war: "Frohe Weihnachten." Doch schon waren sie an mir vorübergegangen, ohne meinen Gruß zu erwidern. Bei einem jungen Paar, das mir entgegenkam, versuchte ich meinen Weihnachtsgruß etwas lauter und deutlicher auszusprechen. Doch auch sie ließen sich durch mich nicht stören und gingen ohne Unterbrechung ihres Gespräches weiter.

Als nach einiger Zeit endlich jemand meinen Gruß erwiderte, spürte ich ein Stechen in meinen Augen. Sie wurden feucht und es war ein klein wenig so, wie nach langer Zeit zu Hause ankommen. Tage später habe ich mich noch gefragt, warum es mir vorkam, als ob die Herzen der Menschen selbst am Heiligen Abend nicht mehr so schnell zu erreichen seien.

Nachdem ich genug gelaufen bin und auch niemand mehr auf der Straße zu sehen ist, schlage ich schon leicht fröstelnd den Heimweg ein. Als ich gegen halb elf nach Hause komme und feststelle, dass mein Mann noch nicht zurück ist, fällt die Entscheidung für mich. Ich werde in die Kirche gehen und mir etwas von meinem Heiligabendgefühl geben lassen. Die St. Georgskirche in der Nähe unseres Stadtkerns soll es sein. Ich ziehe mir schnell einen Mantel an, stecke noch einige Marzipanherzen in meine Tasche, hole das Auto aus der Garage und fahre los.

Von weitem höre ich bereits das Glockengeläut, welches die Gläubigen an den Kirchgang erinnern soll. In der "Heiligen Nacht" haben die Glocken immer einen besonderen Klang für mich. Ich eile über die Straße und die Auffahrt zum Haupteingang entlang. Das Portal ist wegen der eisigen Kälte geschlossen. Ich öffne die schwere Tür, betrete den Vorraum und dort ist mein Weg auch schon zu Ende. Das Gotteshaus ist bis zum Eingang mit Besuchern gefüllt.

Wer keinen Platz mehr in den Kirchenbänken gefunden hat, sitzt auf den Treppenstufen oder steht im Gang. Ich bemerke eine unangenehme Feuchtigkeit, die sicherlich von einem frischen Anstrich kommt. Es riecht stark nach Farbe. Bedauerlich, denn ich hätte mich gern gegen die Wand gelehnt, um wenigstens einen äußerlichen Halt zu haben. Ich fühle mich deplaziert, und an der Wand stehend, so schrecklich allein. Gedankenverloren betrachte ich jede einzelne Stufe der geschwungenen Treppe, die zur Empore führt. Die Glocken hören allmählich auf zu läuten, nun ist es ganz still.

Eine Presbyterin bemüht sich noch immer sehr um einzelne Besucher. Sie verteilt Sitzkissen, da die Steinstufen recht kalt sind. Dann sieht sie mich allein an der Tür stehen und spricht mich freundlich an: "Frohe Weihnachten. Wenn Sie bitte mit mir kommen möchten? Ein Platz ist noch frei." überrascht erwidere ich den Gruß und gehe die wenigen Stufen hinunter in ihre Richtung. Sie führt mich an mächtigen Steinpfeilern vorbei, zum linken Kirchenschiff. Dort sind an der Seite vorsorglich Stühle aufgestellt worden, da die Bänke von vornherein nicht ausgereicht hätten, um heute den vielen Besuchern eine Sitzgelegenheit zu bieten.

Ich bedanke mich und sehe den freien Stuhl kaum, denn mein Blick wird festgehalten von dem einer jungen Frau, die sich links des freien Platzes erhebt. Ein freudiger Stich geht durch mein Herz. Wir lächeln uns an, wünschen uns ein frohes Weihnachtsfest und umarmen uns herzlich. Ein gutes, warmes Gefühl durchströmt mich und ganz selbstverständlich nehme ich nach einem kurzen Gebet neben meiner Noch - Schwiegertochter Platz. Auch sie ist allein hier.

Wir sehen uns mit ungläubigem Erstaunen an und uns wird im selben Moment bewusst, was hier geschehen ist.. überflüssigerweise will ich ihr gerade so etwas zuflüstern wie: "Dass es so etwas gibt - gerade ich - und der einzige freie Platz....!"

Doch da ertönt die Orgel und wir beginnen statt dessen gemeinsam zu singen; "O du fröhliche, o du selige........ !"

Unauffällig lasse ich eines der roten Marzipanherzen in ihre Manteltasche gleiten.