Captain Reginald Lockerby als Kommandeur in Westhofen
Teil III
An einem frühen Novemberabend 1946, als trübe Wolken und böiges Wetter
auf eine kalte und stürmische Nacht hinwiesen, beglückwünschte ich mich
selbst, dass ich meinen Dienst in der warmen Halle unserer Mannschaftsunterkunft
versehen durfte. Ich überwachte nämlich die Auszahlung des Soldes. Wir
hatten etwa die Hälfte der Soldaten abgefertigt, als plötzlich die Tür
aufgerissen wurde und ein Unteroffizier hereinstürzte, der völlig durchnässt
war. Unvorschriftsmäßig rannte er auf mich zu und völlig außer Atem platzte
er heraus: "Bitte kommen Sie schnell, Sir, es gab auf der Abfahrt von der
Höhe (Anm.d.übers.: von Syburg durch den Mühlenberg zum Ackersbach)
einen schrecklichen Unfall!" Er hatte diese Information von einem etwa
12-jährigen Jungen, der auf der Kühlerhaube eines Schwerlasters mitgefahren
war und den Unfall wunderbarerweise überlebt hatte. Er war die zwei oder
mehr Meilen vom Unfallort bis zur Unterkunft gerannt und hatte dort,
fürchterlich aufgeregt, erzählt, was passiert war.
Ruhr-Hochwasser im Autopark
Es gab also nur eines, den Auszahlungsappell abzubrechen und mit dem Jeep
ne Angst zu zeigen! Mir ging es auch so, aber ich tauchte ins Wasser, kämpfte
mich bis ins Führerhaus durch, um an den Körpern der Soldaten festzustellen,
ob sie wirklich tot waren. Obwohl medizinisch nicht vorgebildet, waren meine
Gedanken darauf ausgerichtet, in ihrer Herzgegend vielleicht noch Herzschläge
festzustellen. Ich stellte aber nichts fest. Ich stellte ihren Tod fest, was
keine überraschung darstellte, denn sie waren schließlich schon eine geraume
Zeit unter Wasser. Das bedeutete, dass wir zu ihrer Bergung mehr Zeit hatten
und auch mit ruhiger überlegung die Sache angehen lassen konnten. Meine
Einheit hatte sich im Mühlenberg eingefunden, und ich kann den Männern
nicht genug Lob zollen; sie waren wirklich alle einsame Spitze.
Die erste Aufgabe war es, den "Ward" zu heben. Wir befestigten an seiner
Hinterachse ein paar lange Stricke, führten diese um einen dicken Baum und
schlugen die Strickenden um die Achsen von zwei Lastern, die dann anfuhren
und die Last aus dem Wasser zogen. Als uns dies gelungen war, begannen wir
auf die gleiche Weise auch den "White" zu bergen. Weil der "White" teilweise
zusammengequetscht war, begann er auseinanderzubrechen. Das zerbrochene
Führerhaus gab seine Gefangenen frei und die beiden Leichen trieben in
zwei verschiedene Richtungen ab. Ohne ein Kommando erhalten zu haben,
gingen zwei Gruppen meiner Leute mit untergehakten Armen ins Wasser, um
die beiden Körper zu bergen. Dann trugen meine Soldaten die beiden Leichen
die steile Böschung hinauf und legten sie auf die Ladefläche eines LKW,
der mit ihnen ins Stadtinnere fuhr.
Zunächst rief ich aber das Armee-Hauptquartier an, erklärte die Situation
und fragte, was ich zu tun hätte. Der hochtrabende Bastard am anderen Ende
der Leitung sagte: "Oh, erledige den normalen Ablauf, alter Bursche!"
"Was, verflucht nochmal, ist eine normale Prozedur?" fragte ich bissig.
"Versuch' die Leichen loszuwerden, du blöder Hund!" sagte er hitzig, "bring'
sie in eine verdammte Leichenhalle!" "Gute Nacht, altes Arschloch!", sagte
ich, und die Männer, die um mich herumstanden, amüsierten sich.
Ich rief den Bürgermeister von Westhofen an. Nach langer Erklärung musste
ich meine ganze Autorität herauskehren, und ich befahl ihm, den
Friedhofsverwalter und einen Arzt zum Friedhof zu schicken. Unsere
Wagenkolonne setzte sich dann Richtung Friedhof in Bewegung. Als wir dort
ankamen, waren wir von völliger Dunkelheit umgeben. Nur unsere Taschenlampen
spendeten spärliches Licht, und wir warteten auf die beiden hierher
bestellten Leute.
Ich hatte die beiden Toten gut gekannt, wie ich überhaupt mit allen meinen
Männern vertraut war. Für die Soldaten, die mit mir warteten, waren die
beiden zwei Kameraden gewesen, mit denen sie zusammen gelebt, gelacht und
Spaß gehabt hatten. Jetzt lagen sie auf der Ladefläche des Lasters, nur
noch wie zwei Klumpen gefrorenen Fleisches.
Werner Michel 1946 im Park mit zwei Engländern
Schließlich bemerkten wir in der Dunkelheit ein schwaches Geräusch. Es
war der schleppende Gang eines sehr alten Mannes mit Laterne, Stock und
Schlüsseln. Die Situation war so komisch, dass wir alle in Gelächter
ausbrachen. Inzwischen hatten sich auch einige deutsche Zivilisten als
Neugierige eingefunden.
Sie müssen gedacht haben, was sind diese Engländer
doch für hartherzige Bastarde! Der alte Mann öffnete mit seinem großen
Schlüsselbund das Friedhofstor und führte uns zu einem landhaus-ähnlichen
Schuppen in der Mitte des Friedhofs. Wir bemühten uns schnell um Lichtquellen
und zwei Tische, auf die wir ehrfurchtsvoll die beiden Leichen legten.
Wir warteten auf den Arzt, dem ich vorher schon einmal begegnet war
und der Gott sei Dank gute englische Sprachkenntnisse besaß. Er erfüllte
seine Pflicht mit äußerster Sorgfalt und bejahte seine Meinung, dass die
beiden Kerle tot seien und er das so bestätigen würde. Einer der Toten
hatte seinen Ehering am Finger. Der Doktor versuchte ihn abzuziehen, da
es ihm aber nicht gelang, entnahm er seiner Arzttasche eine Schere,
durchtrennte damit fachgerecht den Ring und legte ihn ehrfurchtsvoll in
meine Hand! Mir schoss es durch den Kopf: "Verdammt, was soll ich damit
jetzt anfangen?" Dann dämmerte mir aber, dass es nun meine nächste
Aufgabe sein würde, mich mit der Ehefrau in Verbindung zu setzen und
ihr den zerschnittenen Ring zurückzugeben.
Nachdem wir uns von dem sicheren Verschließen der Totenhalle und des
Friedhoftores überzeugt hatten, zogen wir alle ehrfurchtsvoll und
stillschweigend ab in Richtung eines wohlverdienten Betts, wenn auch
sehr spät und in trauriger Stimmung.
Obwohl ich einen großen Widerwillen gegen Alkohol habe, passierte es
als einer der wenigen Fälle in meinem Leben, dass ich einmal zu Weihnachten
berauscht war. Mit einigen ortsansässigen deutschen Freunden, unter
ihnen auch Fritz – wir hatten in Dünkirchen, jeder auf seiner Seite,
aufeinander geschossen – feierte ich, und sie animierten mich, viel mehr
zu trinken als ich vertragen konnte. In diesem Zustand verkündete ich
plötzlich, dass ich den Weihnachtsmann spielen wollte. Ich rief aus:
"Ich bin der Nikolaus!" und verstaute einige Flaschen Steinhäger in meinem
Jeep, lud ein paar Leute zum Einsteigen ein und wir fuhren an den Wohnungen
meiner Angestellten, Dolmetscher, Köche usw. vor. Ich machte mich mit
einer Schelle bemerkbar, die ich im Haus gefunden hatte, rief "Heilige
Nacht!" und "ein schönes verdammtes Weihnachtsfest!" und überall
überreichte ich eine Flasche Steinhäger. Meine deutschen Freunde haben
mich diese Episode nie vergessen lassen, denn fünfzig Jahre lang, ohne
Ausnahme, haben sie mich zu Weihnachten angerufen und mir "Heilige Nacht
und a fine bloody Christmas" gewünscht.
Ende Februar 1947 war die Zeit gekommen, die Armee zu verlassen und zu
meiner geliebten Frau und meinen Kindern zurückzukehren. Es ist gewiss
wahr, dass ich gerne Soldat gewesen bin und ebenso gerne meinen Dienst als
regulärer Soldat verrichtet habe.
Vor meiner Abreise hatten meine deutschen Freunde mir eine
selbstangefertigte Plakette geschenkt, die das Wappen von Westhofen
zeigt. Am unteren Rand befindet sich eine Silberplatte mit der
gravierten Inschrift "King Reginald 1945 - 1947".
Mit der Anfertigung und der überreichung der Plakette an mich,
zweifellos als Scherz gedacht, wird sicherlich auch die Wärme der
Bewunderung und Anerkennung des Teils der deutschen Bevölkerung zum
Ausdruck gebracht, die mit mir in Westhofen zu tun hatte.