Schwerter Eisenbahngeschichte

Schwerte und Umgebung 1921 – 1922

1921

Im Zuge der geplanten Eisenbahnreform durch den damaligen Reichsverkehrsminister Groener machte sich im Spätherbst 1921 Unmut unter den Reichseisenbahnern breit. Geplant war, die Reichsbahn zwar als Staatsbetrieb zu erhalten, sie aber gleichzeitig unter kaufmännischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten vom Reichshaushalt unabhängig zu gestalten. Bis zu diesem Zeitpunkt waren bereits 65.000 Beschäftigte von der Deutschen Reichsbahn entlassen worden. In der Begründung hieß es, dass die eingefahrenen Defizite, bedingt durch die Kriegsschulden mit dem Ausland, sowie Kohlemangel diese Maßnahmen zwingend notwendig machten.

Aus diesem Grund hielt die Ortsgruppe Schwerte der "Fachgewerkschaft nicht technischer Eisenbahnbeamter und Anwärter" im "Haus Kordeck" (Kampstraße 20) Anfang Dezember eine Versammlung ab. Hier wurde zum Ausdruck gebracht, dass die Zukunft der Eisenbahner sehr trübe sei und der Ausspruch:

"Freie Bahn dem Tüchtigen"

nicht mehr gegeben ist. Ferner wurde über die unzureichende Besoldung der Gruppen 1 – 6, sowie über die Gefährdung des 8-Stunden-Tages und die Privatisierung der Reichsbahn gesprochen. Am Schluss wurde folgende Resolution verabschiedet:

Die am 5. Dezember 1921 versammelten Mitglieder der Ortsgruppe Schwerte, der Fachgewerkschaft 4, lehnen eine Privatisierung der Staatseisenbahn entschieden ab, sind aber bereit, an der Hebung der Wirtschaftlichkeit derselben energisch mitzuarbeiten. Wir verlangen, dass Minister Groener für die Behauptung, es seien 70.000 Beamte zu viel vorhanden, den Beweis der Wahrheit antritt. Die Beseitigung des 8-Stunden-Tages wird in aller Schärfe zurückgewiesen und mit allen gewerkschaftlichen Mitteln bekämpft werden.

Das Gerücht, dass 20.000 Eisenbahner entlassen werden sollten, trug weiter zum Unmut der Arbeiter und Angestellten bei.

Am 28. Dezember spitzte sich die Streiklage in den Direktionen Elberfeld und Essen derart zu, dass auf dem Bahnhof Hagen kein Zug mehr ab- und angenommen wurde. Lediglich in Schwerte konnte am früheren Morgen der Zugbetrieb zwischen Dortmund und Iserlohn aufrecht erhalten werden.

Einen Tag später, am 29.12.1921, griff der Streik auch auf Schwerte über. Ein handschriftlicher Beleg aus den Akten dieses Tages besagt:

Die Eisenbahnarbeiter des hiesigen Bahnhofs sind heute Vormittag in einen "Wilden Streik" getreten. Der Güterverkehr ist lahmgelegt. Der Fahrverkehr wird notdürftig aufrecht erhalten. Wie lange dieser tatsächlich noch betriebsbereit erhalten werden kann, ist nicht abzusehen.

Die Gewerkschaft - Deutscher Eisenbahner -, welche dem - Deutschen Gewerkschaftsbund - angehörte, hatte an diesem Tag folgendes beschlossen:

(Zitat) Die Bewegung im Westen, in den Direktionsbezirken Köln, Elberfeld und Essen, ist als eine wilde Streikbewegung anzusehen. Die Zentralleitung lehnt eine Teilnahme an dieser Bewegung ab.

Diese Ablehnung ergab sich daraus, weil die Gewerkschaftsführung – Deutscher Eisenbahner – sich zu diesem Zeitpunkt in Verhandlungen mit dem Reichsminister befand, um eine vernünftige Lösung der Ortsklasseneinteilung für Arbeiter rückwirkend zu erreichen. Es wurde dringend aufgerufen, sich während der Verhandlungen nicht an "Wilden Streiks" zu beteiligen, denn dies sei "ungewerkschaftlich". Im Gegenzug wurde das Reichsverkehrsministerium aufgefordert, die Verhandlungen im positiven Sinne und schnellstens zum Abschluss zu bringen.

Es hieß weiter: (gekürzt)

Die Leitung der Gewerkschaft hat das Vertrauen zu ihren Mitgliedern, dass diese sich nicht von unbesonnenen Elementen in örtliche Bewegungen hineinziehen lassen. Falls der Zeitpunkt kommen sollte, seitens der Gewerkschaft zu Kampfmitteln zu greifen, so führt der Weg nicht über bezirklich entfachte Putsche, sondern kann nur über eine einheitliche Aktion zum Ziel gebracht werden.

Mit dem 30. und 31. Dezember wurde der Personenverkehr im Elberfelder Bezirk mit Straßenbahnen, sowie der Postverkehr mit Kraftfahrzeugen, aufrecht erhalten. Da unter der Schutzpolizei ein hoher Krankheitsstand zu verzeichnen war, entsandte der Regierungspräsident vier Hundertschaften zum Schutz der Bahnanlagen und Betriebsstätten der Elberfelder Direktion.

Der "Vorwärts" schrieb in diesen Tagen:

Der große Eisenbahnerstreik ist durch die ultimative Lage der Eisenbahner und die Ablehnung im Reichskabinett in bedrohliche Nähe gerückt. Hoffen wir, dass es in letzter Stunde noch gelingt, die Fehler, welche auf beiden Seiten gemacht wurden, zu korrigieren und dadurch eine wirtschaftliche Katastrophe abzuwenden.


1922

Gleich am ersten Tag des neuen Jahres 1922 zeichnete sich ein Ende des Eisenbahnerstreiks ab. Aus einem Schriftstück, datiert vom 1. Januar 22, war es zu folgenden Vereinbarungen zwischen den unterzeichneten Vertragsparteien gekommen:

Soweit in den einzelnen Orten ein Ortsklassenverzeichnis des Lohntarifvertrages eine höhere Einstufung vorgesehen war, konnte den Arbeitern eine Zulage zur Differenz gewährt werden.

Für Arbeiter der Bahnmeistereien wurde der Lohn nach dem Ortsklassentarif des Ortes festgelegt, in dem der Rottenführer überwiegend tätig ist. Sollte der Rottenführer in mehreren Gemeindebezirken, die nicht der gleichen Ortsklasse angehörten, tätig sein, so muss der Lohn der höchsten Ortsklasse gezahlt werden.

In Orten, in denen überteuerungszuschüsse vereinbart waren, wurde rückwirkend zum 1. Oktober 1921, um 1,- Mark pro Stunde erhöht. Diese Vereinbarung galt auch für die besetzten Gebiete des Reiches.

Weiterhin wurde beschlossen, dass am Donnerstag, dem 5. Januar 22, allgemeine Verhandlungen über Lohn- und Gehaltsbedingungen mit dem Reichsfinanzministerium beginnen sollten.

Streiktage wurden in jener Zeit nicht bezahlt und von Maßregelungen wegen Arbeitsniederlegung abgesehen. Lediglich hielten sich die Direktionen eine Verfolgung wegen Sabotageübergriffen in Verwaltung, Betrieben und Verkehr vor. Die Gewerkschaften verpflichteten sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zur sofortigen Wiederaufnahme der Arbeit.

Noch am selben Abend übermittelte die Bezirksleitung des Deutschen Eisenbahnerverbandes in Westdeutschland an die Bezirksleitungen folgendes Telegramm:

"Einigung mit Regierung erzielt. Arbeit darf nirgends mehr niedergelegt werden, wo sie niedergelegt ist, ist sie sofort aufzunehmen."

über die technische Nothilfe während der Streiktage ist aus der "Telegraphen Union" zu erfahren, dass im Bezirk Elberfeld 500 Nothelfer eingesetzt wurden. Davon im Bahnbereich Schwerte 24 Einsatzkräfte. Diese Tätigkeit beschränkte sich im Bereich des BW-Schwerte auf die Fahrbereitschaft der Lokomotiven, den Rangierdienst für lebensnotwendige Güter, und die Einarbeitung und übergabe dieser Arbeiten an die Beamten.

Doch dieser Frieden währte nicht lange. Die Regierung, jetzt nach Meinung der Beamten, zeigte sich uneinsichtig ihnen gegenüber. Sie lehnte die Forderungen ab, welche die Beamtenschaft in Sorge um ihre Familien und Existenz aufgestellt hatte. Sie fühlten sich in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage, sowie in der Freiheit und Stellung als Beamte durch eine Reihe von Gesetzesvorschlägen und Maßnahmen bedroht. Sie wiesen zugleich darauf hin, dass die geringen Errungenschaften seit der Staatsumwälzung schnell wieder genommen werden sollten. Außerdem war ihre Besoldung niemals der inzwischen eingetretenen Geldentwertung angepasst worden. Man sprach damals von einer Verelendung der Beamtenschaft. Dies traf insbesondere auf Beamte der unteren Besoldungsgruppen zu. Denn dieser Beamtengruppe wurde nicht einmal durch ihr geringes Entgelt das Existenzminimum gewährleistet, man gab ihnen lediglich nur den sog. Bettelpfennig.

Die Beamten hätten bereits unter der alten Obrigkeit (Kaiserreich) Hunger leiden müssen und der neue Volksstaat (Weimarer Republik) hat daran auch nichts geändert, hieß es in einem Kommuniqué an die Schwerter Zeitung vom 3.02.22, aus der Ortsgruppe Schwerte.

Besonders angesprochen wurde in diesem Schreiben die Besoldungsgruppe V vom 1.06.1921 mit einem Anfangseinkommen über monatlich 1.119,67 Mark.

Der Wert der Mark in dieser Zeit kann hier deutlich am Dollarkurs abgelesen werden.

1 Dollar,
Jan. 22 = 1.461,- Mark
Nov. 22 = 7.273,- Mark

Mit Ablauf des 1. Februar '22 beschloss die Reichsgewerkschaft Deutscher Eisenbahner mit 60 : 15 Stimmen, bei einer Enthaltung, in der kommenden Nacht um 12.00 Uhr in den Streik zu treten. Auf die Nachricht eines bevorstehenden Streiks setzte die Reichsregierung folgenden Beschluss, nach (damals) Artikel 48 Abs. II, in Kraft: (Auszug)
Den Beamten der Reichsbahn ist es, ebenso wie allen anderen Beamten, v erboten zu streiken. Wer einen Beamten der Reichsbahn zur Arbeitsverweigerung auffordert oder anreizt, wird mit einer Geldstrafe von 50.000 Mark und Gefängnis bestraft. Ebenso, wer an Maschinen und Anlagen Handlungen vornimmt, welche den ordnungsgemäßen Betrieb der Reichsbahn stört oder unmöglich macht.

Die Situation in Schwerte


Auf dem Bahnhof in Schwerte waren sämtliche Fahrkartenschalter geschlossen. An den Sperren drängten sich die Fahrgäste, die Auskunft von den Fahrkartenkontrolleuren haben wollten, ob vielleicht doch noch ab Schwerte ein Zug fährt. Die meisten Antworten waren ausweichend, denn schließlich standen alle Räder still. Der Eisenbahnverkehr in Schwerte ruhte fast völlig. Hin und wieder kam ein Personenzug aus Hagen oder Bestwig an, welcher von Werkmeistern geführt wurde. Nur in den Werkstätten und auf den Strecken wurde gearbeitet, da sich die Arbeiter dem Streik nicht angeschlossen hatten. Im Bahnhofsgebäude zu Schwerte hatte die Schutzpolizei den Sicherheitsdienst übernommen.

Die Tram der Hörder Kreisbahn nach Dortmund war überfüllt und noch immer drängelten Menschenmassen an den Haltestellen. Der Postverkehr wurde wiederum mit LKW und, soweit es die beschränkte Zahl flugfähiger Flugzeuge zuließ, ab Dortmund, per Luft befördert.

Der regelmäßige Bahnverkehr war mittwochs nachts zwischen 0.00 und 6.00 Uhr zum Erliegen gekommen. Lokomotivführer und Zugbegleiter verließen ihren Arbeitsplatz. Der gesamte Güterverkehr in Schwerte, Geisecke und Holzwickede, kam zum Erliegen. Im Fernverkehr wurden einzelne Personenzüge allerdings noch abgefertigt. Es streikten in diesen Tagen hauptsächlich Lokomotivführer, Heizer, Zugführer und Schaffner. Das Stationspersonal trat fast vollständig, bis auf kleinere Gruppen von Weichenstellern und Rangieren, an. Die technische Nothilfe wurde eingesetzt, um den Transport von Lebensmitteln und Kohle zu gewährleisten.

An einer, am 2.02.22, im "Westfälischen Hof" stattfindenden Eisenbahnerversammlung nahmen ca. 700 (lt. Schwerter Zeitung) Beamte und Anwärter teil. Der 1. Vorsitzende, Herr Gorhold, berichtete über die Verhandlungen mit der Regierung und bedauerte, dass es zu keiner Einigung gekommen war. Es wurde zur Gewerkschaftsdisziplin aufgerufen. Im Anschluss übernahm der Lokomotivführer Ortsgruppen-Vorsitzender Schlüter das Wort. Er kam zu der Schlussfolgerung, dass durch einigermaßen Entgegenkommen der Regierung dieser Streik hätte verhindert werden können. Die Stimmung der Mitglieder zeigte, dass sie voll und ganz hinter ihrem Vorstand standen.

Am selben Tag forderte der Präsident der Eisenbahndirektion Elberfeld, Herr Denicke, per Telegraph alle Dienststellen zur Arbeitsaufnahme auf. Er erinnerte gleichzeitig an den geleisteten Beamteneid. Die Regierung würde mit aller Schärfe gegen Nichteinhaltung dieser Auflage vorgehen.

Während im westlichen Teil des Reiches die Streiklage unverändert blieb, hatte sich die Lage im Elberfelder Bezirk gebessert. Mit dem 7.02.22 entspannte sich der Streik auch in Schwerte etwas. Ein Teil des Zugpersonals hatte sich zur Dienstaufnahme zurückgemeldet. Der Rangierbetrieb konnte wieder aufgenommen, und die Zahl der abfahrenden Züge gegenüber dem Vortag erhöht werden.


Es entstand der Eindruck, dass die Gruppen des Deutschen Eisenbahnverbandes den Streik abbrachen, weil von der Zentrale kein Streikgeld zu erwarten war. Auch der Deutsche Beamtenbund empfahl in einem Rundschreiben den Abbruch des Streiks.

In diesen Streiktagen waren 320 Nothelfer, Lokomotivführer, Techniker und Ingenieure, im Bezirk Elberfeld Tag und Nacht tätig, um das Schlimmste von der Bevölkerung fernzuhalten.

Am 17.02.22 tagte in der "Reichskrone" (damals Kino und Theater gegenüber der Hauptpost) der Deutsche Eisenbahnerverband unter dem Vorsitz des Herrn Gerharts. Der Gewerkschaftssekretär Winkler referierte über das Thema:
"Rachepolitik oder Versöhnung"

Er zeichnete noch einmal deutlich auf, welche Ursachen zu dem letzten Streik geführt hatten.

Klar stellte er heraus, dass die Löhne und Gehälter der Eisenbahner gegenüber der Privatindustrie sehr schlecht abschnitten. Wenn man bedenke, dass die Löhne und Gehälter, die vor dem Krieg 60 % der Einnahmen ausmachten, jetzt auf 45 – 47 % herabgemindert worden seien. Dies zeige doch eine missliche, finanztechnische Lage der Eisenbahn und nicht eine Folge der höheren Besoldung der Eisenbahnangestellten. Der Redner berichtete weiter, die Direktion Elberfeld teile mit, dass in ihrem Bezirk fünf Beamte, infolge des Streiks, entlassen worden seien. Diese Information war zwar richtig, sie teilte aber nicht mit, gegen wie viel Beamte ein Disziplinarverfahren eingeleitet wurde. Man hatte nach Abbruch des Streiks dem Reichskanzler Wirth (Reg.-zeit 10.05.21 – 22.10.21 und 26.10.21 – 14.11.22) geglaubt und angenommen, dass nur gegen die Führer oder wegen groben Eingriffs in den Dienst ein Verfahren eröffnet würde. Wenn die Regierung ihr Wort nicht halten könnte, weil untergeordnete Organe eigenmächtig handelten, so sei dies Vertragsbruch, den sich die Eisenbahner nicht gefallen ließen. Man erwartet, dass die Regierung das durch den Reichskanzler gegebene Versprechen einlöst und die Massendisziplinierung für nichtig erklärt.

Auf einer Versammlung am Nachmittag des 10. März 22 im Westfälischen Hof wurde der Gedanke einer Einheitsorganisation aller Eisenbahner angesprochen. Mit einer solchen Vereinigung sei man für alle kommenden Arbeitskämpfe gerüstet. In einer anschließenden Aussprache wies Herr Winkler von der Dachorganisation die Vorwürfe weit zurück, man habe den groben gewerkschaftlichen Fehler begangen, zum Streik aufzurufen, ohne sich mit den anderen Spitzenorganisationen verständigt zu haben. Dem Streik der Reichsgewerkschaft habe der Erfolg versagt bleiben müssen, da die Bewegung nicht von den breiten Massen des Volkes getragen worden sei. Zum Abschluss dieser Versammlung wurde noch einmal von allen Rednern eindringlich auf die Schaffung einer Einheitsfront hingewiesen.

Die Gewerkschaftler und deren Sympathisanten standen im Spätherbst weiterhin unter Polizei- und Staatsbeobachtung. So ist nach einer handschriftlichen Notiz, aus den Polizeiakten der Stadt Schwerte zu entnehmen, dass sich das Vereinslokal der Eisenbahner, mit dem 2.11.1922, jetzt an der Hörder Straße in der Gastwirtschaft "Thiemesmann" befand.

Durch die im März 1923 einsetzende Reparationszeit und die Besetzung französischer Truppen des Ruhrgebietes traten Streiks im Sinne der Lohnzahlungen und der Verkürzung der Arbeitszeit zunächst einmal deutlich in den Hintergrund. In diesen Zeiten wurden Eisenbahnerstreiks in der Hauptsache als Protest gegen die französischen und belgischen Besatzungsmächte durchgeführt.

Klaus H. Huhn

Mit freundlicher Unterstützung des Stadtarchivs Schwerte, der Stadtbücherei und der GdED – Transnet – Bestwig
Quelle: Schwerter Zeitung d. Jahrg. 1921/22