Die Kunstschätze der St.-Viktor-Kirche

In der letzten Folge habe ich versucht, die Entstehungsgeschichte unserer St.-Victorkirche in groben Zügen darzustellen. Heute will ich die innere Gestalt des Gotteshauses und seine bemerkenswerten Kunstschätze vorstellen.

Die im 15. Jhdt. zur gotischen Hallenkirche umgestaltete Victorkirche, mit ihren drei gleich hohen Schiffen, wurde zwischen 1508 und 1523 um den spätgotischen Chor erweitert. Er besitzt etwa ein Drittel der Kirchenschiffslänge und nahezu drei Viertel der dreischiffigen Hallenbreite. Dabei überragt das mächtige und zugleich zierliche auf Wandsäulen lagernde Sterngewölbe die Kreuzgewölbe der Kirchenhalle um einiges. Dagegen ist das durch den Vorbau des Kirchturmes gebildete neue Joch I um ein gutes Stück niedriger. Die Maße des Chores scheinen in direktem Bezug zu dem Antwerpener Flügelaltar zu stehen, der, wie die Inschrift meldet, am Palmsonntag 1523 in der Kirche aufgerichtet wurde. Seine Herstellung wird einige Jahre in Anspruch genommen haben. Wir gehen darum wohl nicht fehl, wenn wir das Chor und den Altar als ein "Gesamtkunstwerk" betrachten, das von Anfang an so geplant wurde. Von den Glasmalereien der sieben hohen dreiteiligen spätgotischen Fenster des Chores haben nur Fragmente die Zeiten überdauert, die in einem Fenster, ziemlich willkürlich zusammengefasst wurden. Von einem der Fensterstifter zeugt noch sein Wappen, in blauem Feld ein goldener Pott, nebst Inschrift: "Johan Pötken (* um 1450, 1503 u. 1511 urk.) Provest (Propst) St. Jürgen in Cölln". Johan Pötken war aus Schwerte gebürtig und hat seiner alten heimatlichen Pfarrkirche eines der neuen Chorfenster gestiftet. Von den Bleiverglasungen der übrigen gotischen Fenster des Kirchenhauses hat sich keine mehr erhalten.

Die Fresken

Das Kreuzigungsfresko aus dem 14.Jhdt.
Die Wände, Pfeiler und Gewölbe der Kirche waren ursprünglich bemalt. Von diesen Fresken haben sich jedoch nur Reste verschiedener Ausmalungsperioden erhalten. Das künstlerisch wertvollste Fresko, aus der Zeit von 1310 oder 1320, befindet sich in der Nebenaltarwandapside des südlichen Seitenschiffes. Es wurde 1943 entdeckt und restauriert. Es zeigt eine Kreuzigungsgruppe mit Maria und Johannes. Es gilt in der Kunstwelt als das früheste Wandgemälde des 14. Jhdts. in Westfalen und zählt zu den schönsten und erhabensten Kreuzigungsbildern dieser Epoche. Von den späteren Wandmalereien ist besonders das Christophorusfresko, verm. aus dem 15. Jhdt., an der Wand des südlichen Seitenschiffes hervorzuheben, von dem nur die beiden Köpfe, der des Christophorus und des Jesuskindes erhalten sind. Ein ganz merkwürdiges Fresko entdeckte man 1888 bei der Renovierung der Kirche an der Südseite des Kanzelpfeilers. Es zeigte den gekreuzigten gekrönten Christus in langem Gewand, zu dessen Füßen ein Fidelspieler kniet. Es ist eindeutig romanischer Zeitstellung und dürfte ins 11. Jhdt. zu datieren sein. Es soll eine sog. "heilige Kümmernis" darstellen. Doch leider hat man bei der Renovierung von 1954 nur noch zusammenhanglose Fragmente davon gefunden. Anscheinend hat man 1888 davon aber eine Abzeichnung angefertigt, die Pfarrer Paul Ohlig 1939 in seinem Kirchenführer veröffentlichte.

Erwähnenswert sind auch die beiden Wandfresken des 16. Jhdts. an den Innenseiten des Triumphbogens, dem Portal zum Chorraum, an der Nordwand der Hl. Stephanus mit seinen Attributen: in der Linken ein Palmzweig, in der Rechten ein Buch mit drei Steinen. Das Stifterwappen zu seinen (nicht mehr vorhandenen) Füßen ist vermutlich das Allianzwappen des Gerhard von der Mark zu Villigst (1475 bis 1482 urk.) und seiner mutmaßlichen Gattin Margarethe von Düngeln, der möglicherweise auch die heute nahezu völlig erodierte Grabplatte von 1562 auf dem Kirchhof an der südlichen Außenseite von St.-Victor zuzuschreiben ist. Links an das Wappen stoßend, zu Füßen des Stephanus, ist ein merkwürdiges radähnliches Ringkreuz abgebildet, welches wir auch auf dem gegenüberliegenden Fresko, der Madonna im Strahlenkranz, finden; hier anlehnend an das vermutliche Allianzwappen eines Herrn von der Recke und seiner unbekannten Gattin. Haben wir es bei dem Radkreuz mit einer Meistermarke des Künstlers zu tun, oder verbirgt sich eine besondere Symbolik dahinter?

Von den Gewölbefresken der Hallenkirche, die wir dem ausgehenden 15. und dem späten 16. Jhdt. zuordnen können, sind insbesondere die musizierenden vier Engel in den Gewölbezwickeln um den Schlussstein des heutigen Joches III, des Kanzelgewölbes, erwähnenswert; ferner, der schon im Heft 50 abgebildete sogenannte "Schwerter Engel" (verm. spätes 15. Jhdt.), mit den Wappen der Stadt Schwerte und der Grafen von der Mark, im Gewölbe des Kirchturms (heutiges Joch I).

Die Holzplastiken

Ein Leuchterengel, um 1500
Ursprünglich müssen zahlreiche sakrale Holzfiguren in der Kirche vorhanden gewesen sein, von denen heute nur noch wenige erhalten sind, bzw. sich nicht mehr im Besitz der Kirchengemeinde befinden. So wurden zum Beispiel um 1900 zwei gotische Pfeilerfiguren, Maria und Johannes, an das Provinzialmuseum Münster, heute Westfälisches Landesmuseum Münster, abgegeben, die möglicherweise einst das spätgotische Triumphkreuz, im Triumphbogen von St.-Victor, flankierten. Desgleichen gelangten vier stark verstümmelte Figuren einer fünfteiligen Kreuzigungsgruppe, Christus, die zwei Schächer und Maria, an das Landesmuseum. Aus dieser Gruppe verblieb einzig der Johannes in St.-Victor. Bei dieser Gruppe, zu der möglicherweise noch weitere Figuren gehörten, dürfte es sich um einen sogenannten "Kalvarienberg" gehandelt haben, der einst außen vor der Kirche gestanden haben könnte.

Gleichfalls im Landesmuseum Münster befindet sich heute die gotische "Mater dolorosa" – die schmerzensreiche Mutter Maria, die möglicherweise zu dem Altarfragment der "Sieben Schmerzen Mariens" von 1518 gehörte, welches sich heute im südlichen Seitenschiff befindet. Vielleicht auch zu diesem Altar gehörig sind die zwei spätgotischen "Donatoren", sog. Stifterfiguren. Auch diese befinden sich heute im Landesmuseum. Sie stellen einen knienden Mann und eine Frau dar, die augenscheinlich die Maria flankiert haben.

In einer Wandnische des nördlichen Seitenschiffes finden wir ein gotisches Gabelkreuz von 88 cm Höhe. Es ist der Rest eines ehemals langen Vortragekreuzes und eine künstlerisch wertvolle Arbeit aus dem 14. Jhdt.

Nicht unerwähnt soll auch die Kanzel bleiben. Sie wurde 1666 im Stil des bäuerlichen Barock gestaltet. Zwischen gedrehten Säulen finden wir die vier Evangelisten und auf der Türe Martin Luther. Den Schalldeckel der Kanzel krönt die Figur des Apostels Paulus.

Die Steinplastiken

Die Stifterfiguren und das Vortragekreuz
Zu nennen ist hier ein romanischer Gewölbeschlussstein im nördlichen Seitenschiff in Zweitverwendung. Er zeigt die Krönung Mariens und belegt, dass schon in romanischer Zeit (12. oder 13. Jhdt.) zumindest ein Teil der Kirche eingewölbt war. Romanischer Zeitstellung gehört auch ein rundkonischer Taufstein an, der unten und oben mit einem umlaufenden Blätterfries verziert ist. Der heute benutzte Taufstein, in oktogonaler Kelchform mit kubischem Fuß in außergewöhnlich schlichter Form, stammt aus gotischer Zeit. Er mag früher als Weihwasserbecken gedient haben.

Spätgotisch, aus dem Anfang des 16. Jhdts., ist das Sakramentshäuschen in der Nordwand des Chores, mit dreiteiliger Spitze; darin eine Kreuzigungsgruppe mit Maria und Johannes unter dem Kreuz, in farbiger Fassung; eine Seltenheit in Westfalen.

Auch die Schlusssteine des spätgotischen Chorgewölbes sind farbig gehalten. Sie zeigen Johannes den Täufer, Gottvater und den Kirchenpatron St. Victor.

Der größte Schatz der St.-Victor-Kirche ist:

"Der goldene Altar"

Der goldene Altar von St.-Victor, von 1523,
im geöffneten Zustand.

Vor dem Altar stehen auf zwei schlanken spätgotischen Säulen aus dem Ende des 15. Jhdts. zwei Leuchterengel mit aufgerichteten Flügeln. Solche "Velenträger" genannten Leuchter finden sich äußerst selten. Die ursprüngliche Bemalung wurde 1954 freigelegt. Am Fuß beider Säulen befinden sich zwei Inschriften, die in unserer heutigen Schreibweise so zu lesen sind:

1) Meister Heinrich von dem Berge, als er in Schwerte war, dass ihm Gott gnädig sei;
2) Gegrüßet seiest du, heilige Mutter St. Anna, selb dritt, bitte für uns.

Der Schwerter Altar gehört zur Gruppe der sogenannten Schreinaltäre, der durch seitlich angebrachte Flügel verschlossen werden kann. Der Altarschrein besteht aus 15 geschnitzten Feldern und über 150, von Ornamenten eingerahmten Figuren. Die Figuren und der gesamte Schrein sind mit Blattgold überzogen, die Figuren selbst noch bemalt. Die beiden jeweils dreifach in der Höhe unterteilten Seitendoppelflügel, bestehend aus mehreren durch Scharniere verbundenen Läden, zeigen 72 Gemälde, die beidseitig angebracht sind und so verschiedene Verschlusszustände des goldenen Mittelschreins ermöglichen.

Der untere, beidseitig eingezogene Teil der Schreintafel, besitzt sieben Nischen, in denen einst 12 Alabasterfiguren, die 12 Apostel, jeweils zu zweit in einer Nische standen und den in der Mittelnische sitzenden Jesus flankierten1). Im Jahre 1888 wurden diese kunsthistorisch bedeutsamen Figuren gestohlen und in den Strang geworfen. Nur neun von ihnen, teilweise schwer beschädigt, konnten noch geborgen werden. Blindwütiger Vandalismus ist anscheinend nicht nur ein Zeichen unserer Zeit.

Die Geburt Christi

Die darüberliegende zweite Reihe der Schreintafel zeigt die Geburtsgeschichte Jesu in fünf Szenen; beginnend mit der Verkündigung, der Geburt, und der Anbetung der drei Könige als Mittelpunkt des Geschehens2); gefolgt von der Beschneidung Jesu und der Darstellung im Tempel. Leider ist die Figur des Jesuskindes in der Geburtsszene verloren gegangen, wie auch der Josef bei den drei Königen. Bei vollständigem öffnungszustand des Schreins schildert der linke zugehörige Flügelteil in zwei Tafelbildern die Josefslegende, der rechte, die Flucht nach ägypten und den Kindermord von Bethlehem.

Der oberste und größte Teil der Schreintafel zeigt umlaufend die Passion Christi in acht Szenen, mit der Kreuzigung im überhöhten Mittelteil. Geburts- und Leidensgeschichte Christi bilden so den optischen Rahmen für
Die Anbetung der Hl. Drei Könige.

den eigentlichen Themenschwerpunkt des Altars, das Geheimnis der Eucharistie; dargestellt am Beispiel der sogenannten "Georgsmesse", die auch bei geschlossenem Schrein in den Flügelbildern wiederholt wird. Es ist die bildliche Schilderung der katholischen Verwandlungslehre, die Umwandlung des Brotes in den Leib Christi, das Mysterium der katholischen Messfeier.

Unter der "Georgsmesse", als Mittelpunktsbild, erblicken wir die "Mater dolorosa", in der Komposition ähnlich dem schon zuvor besprochenen Altar der sieben Schmerzen Mariens.

Das Wunder der Georgsmesse, Themenwerk des Altars


Die Mater dolorosa


Bekrönt wird der Altar durch drei Holzfiguren auf kapitällverzierten Säulen: Johannes der Täufer, Maria mit dem Kind und der Kirchenpatron St.-Victor, dessen Legende auch auf einer Flügeltafel abgebildet ist. Diese Skulpturen wurden nachträglich angebracht.

Unter den etwa 200 weltweit erhaltenen Antwerpener Flügelaltären, vorzugsweise in Deutschland, und insbesondere im Rheinland und Westfalen, finden sich einige von ungewöhnlicher Größe. Dazu zählen die Altäre in der Altstädter Nicolaikirche in Bielefeld, in der St. Georgs-Kirche zu Vreden, in der St.-Victor-Kirche zu Schwerte, sowie als größtes Retabel überhaupt, der Flügelaltar in der Petrikirche zu Dortmund.

Mit Letzterem besitzt der Schwerter Altar, hinsichtlich der Ikonographie des Schnitzwerks und der Flügelbilder, die größte ähnlichkeit. So stammen denn auch die Gemälde beider Altäre aus der Werkstatt des Antwerpener Meisters Adrian van Overbeck. Die Ausführung der Schnitzarbeiten lag jedoch jeweils in anderen Händen3). Im Falle des Schwerter Altars sind sie jedoch keiner bestimmten Werkstatt zuzuordnen.
Der Alter im geschlossenen Zustand.
Im Mittelpunkt auch hier die Georgsmesse.


Auch für den Dortmunder Altar steht eine sichere Zuweisung noch aus. Hinsichtlich der Qualität des Schnitzwerks ist der Dortmunder Altar dem von St.-Victor sicherlich überlegen. Trotzdem gehört der Schwerter Altar zu den besten Erzeugnissen der Antwerpener Kunstwerkstätten.

Der Dortmunder Altar wurde 1521 von den Dortmunder Franziskanern in Auftrag gegeben. Nach Interpretation des Kontraktes rechnete man mit einer Produktionszeit von vier Jahren. Er kostete 646 Goldgulden. Der Schwerter Altar wäre demnach, aufgrund seiner geringeren Dimensionen, in etwa 2 bis 2 ½ Jahren fertigzustellen gewesen und dürfte etwa 300 bis 400 Goldgulden gekostet haben.

Längst nicht alle Kunstschätze der St.-Victor-Kirche konnte ich hier vorstellen, noch sie ausführlich beschreiben. So konnte ich aus Platzgründen auch nicht auf die Themen der Tafelbilder des Altars eingehen. Den I nteressenten empfehle ich daher den Erwerb des Kirchenführers "St.-Victor-Kirche Schwerte". Er ist zum Preis von 3,- DM in der St.-Victor-Kirche erhältlich.

Reinhold Stirnberg

Anmerkungen:

1) Die Alabasterfiguren stammen aus dem 15. Jhdt., sind also erheblich älter. Sie gehörten wohl zu einem früheren Altar, und wurden in die Konzeption des Goldenen Altar mit einbezogen. Durch ihre Positionierung direkt am Altartisch, symbolisieren die Figuren das letzte Abendmahl Jesu, dass ja in der Feier der Eucharistie, bzw. bei der Abendmahlfeier, am Altar nachvollzogen wird. Jesu und seine Jünger sind so auch bildlich hierbei Tischgenossen der Gemeinde.

2) Nach der mittelalterlichen Glaubenslehre war nicht die leibliche Geburt Jesu das Hochfest der Kirche, sondern die "geistige Geburt Christi", vollzogen durch die Taufe, welche am Dreikönigsfest, am 6. Januar, dem Fest der "Epiphania" – der Erscheinung des Herrn – gefeiert wurde.

3) Es spricht jedoch einiges dafür, dass Overbeck für beide Altäre die Entwürfe geliefert hat, und möglicherweise die Aufsicht über die Arbeiten am Altar innehatte.

Fotos: Ev. Kirchengemeinde St. Victor und Verfasser