Das Damenprogramm
Die Sonne kitzelte Helen an der Nase - verschlafen schlug sie die Augen
auf. Schön! Ein Sonnentag, und noch ein Sonntag dazu! Keine Eile mit dem
Frühstück, Thomas musste nicht in die Praxis, kein Kind in die Schule.
Und auch sonst hatten sie noch keine Pläne gemacht, wie sie den Sonntag
verbringen wollten - der Sonnenschein eröffnete eine ganze Palette von
Möglichkeiten.
Eins aber hatte Helen sich für heute vorgenommen, Sonnenschein oder nicht:
Sie wollte noch einmal mit Thomas sprechen, ob sie nicht doch mit ihm zu
dem Kongress nach Genf fahren konnte. Noch nie hatte sie an einem Kongress
teilgenommen. Wegen ihrer drei kleinen Kinder war das nicht möglich gewesen.
Aber Genf! Diese Stadt lockte sie wie nur wenige. Und so hatte sie sich
ausnahmsweise einmal das Damenprogramm angeschaut, und auch das bot viel,
was sie gerne mitgemacht hätte: Rundfahrt auf dem See mit der Ile Rousseau
und dem Schlösschen des Lord Byron. Einen Opernbesuch. Aber vor allem: eine
richtige Weltstadt besuchen, nur so zum Bummeln! Danach stand ihr nach den
vielen Jahren in ihrem Kleinstädtchen - so lieb ihr das inzwischen geworden
war - sehr der Sinn.
Deshalb packte sie, als Thomas und sie behaglich in ihren Liegestühlen saßen,
mutig den Stier bei der Hörnern. Die Kinder spielten ausnahmsweise verträglich
mit den neuen Boccia-Kugeln, eine Störung war also bis auf weiteres nicht zu
befürchten.
„Thomas, was meinst du, ob ich nicht doch mit zum Kongress nach Genf fahren kann?"
„Aber Helen, wie kommst denn darauf? Wir haben doch schon darüber gesprochen.
Wie stellst du dir das vor? Wer soll denn für die Kinder sorgen?"
„Das hat deine Mutter uns doch schon so oft angeboten. Bisher haben wir es
noch nie angenommen, da waren die Kinder ja auch noch kleiner. Aber jetzt
sind sie doch ganz handlich. Armin und Nicki gehen zur Schule, und Hannes
ist vormittags im Kindergarten."
„Weiß ich doch! Aber glaubst du, das können wir der Mama zumuten? Du hast
doch den ganzen Tag zu tun, um alles zu bewältigen. Und die Mama ist eben
doch eine Ecke älter. Ich weiß nicht..."
„Thomas, nun tu nicht, als sei die Mama schon eine pflegebedürftige Greisin!
Das ist sie nun wahrhaftig nicht, Gott sei Dank! Mit der Waschmaschine kann
sie umgehen, und damit sie nicht so viel mit dem Kochen und Einkaufen zu tun
hat, friere ich ihr ein paar Mahlzeiten ein. Es sind ja auch nur fünf Tage!
In der Zeit werden unsere drei ihr schon nicht die Nerven total ruinieren."
„Ich weiß gar nicht, wieso du plötzlich auf solche Ideen kommst. Du bist doch
noch nie mit auf einem Kongress gewesen. Das ist eine verflixt anstrengende
Sache und kein Vergnügen, das glaub mir ja!"
„Für euch Fachärzte vielleicht, obwohl ich auch das nicht einmal glaube. Ihr
werdet schon auch Zeit finden, euer Schwätzchen zu halten. Aber du glaubst
doch nicht, dass ich mit tagen will? Für uns Ehefrauen, die auch gerne mal
andere Tapeten sehen möchten, gibt es eben deshalb das sogenannte Damenprogramm."
„Das Damenprogramm! Und zu solchem Schwachsinn willst du dich bereitfinden?"
„Hast du dir's denn überhaupt einmal angesehen? Für eure Kolleginnen mögen
die Fachvorträge interessanter sein. Aber nicht alle Ehefrauen von ärzten
sind von vornherein schwachsinnig. Das möchte ich mir doch ausgebeten haben."
Thomas spürte, dass er im Eifer des Gefechts zu weit gegangen war. Der Gedanke,
Helen mit nach Genf zu nehmen, ging ihm so völlig gegen den Strich, dass er
einlenkend sagte: „Entschuldige, so hatte ich es nicht gemeint. Ich weiß
auch nicht und muss mir mal überlegen, was mir an dem Plan so missfällt.
- Doch, jetzt weiß ich's: die Mama mit den Kindern alleinzulassen."
„Und warum? Glaubst du, es wird ihr zu viel?"
„Nein, ich glaube eher, dass es den Kindern zu viel wird. Ich habe dir
das noch nie erzählt: Wenn unsere Eltern verreisten - und das taten sie
gar nicht so selten - Mama war auch nicht wenig vergnügungssüchtig..."
„Vergnügungssüchtig! So siehst du das also!"
„Pardon, aber lass mich weitererzählen! Wenn also meine Eltern verreisten,
kam regelmäßig unsere Großmutter mütterlicherseits zum Einhüten. So nannten
sie das damals. Und die war streng! Alle Schulaufgaben kontrollierte sie,
wozu die Mama nur selten kam. Und war ihr etwas nicht schön genug, musste
das Ganze noch einmal abgeschrieben werden. Wir hatten richtigen Bammel vor
den Wochen mit ihr."
„Das kann ich mir vorstellen", sagte Helen mitleidig.
„Ja, aber das war noch nicht alles. Ich weiß nicht, was für Tischmanieren
wir damals hatten. Oma jedenfalls waren sie längst nicht fein genug. Im
Nachhinein habe ich das Gefühl, dass sie meinte, jeweils in den drei Wochen
- oder wie lange es nun war - Mamas pädagogische Nachlässigkeiten ausbügeln
zu müssen."
„Dann war sie also bei euch nicht sehr beliebt?" fragte Helen.
„Gar nicht. Aber wenn wir einen Flunsch zogen, wenn wir hörten, die 'Unke'
sei wieder im Anmarsch - 'Unke' nannten wir sie unter uns, das durfte sie
aber nicht hören - dann sagte Mama nur abwehrend: 'Lasst nur! Sie hält euch
ganz schön in Ordnung. Und die Zeit geht ja schnell vorbei.'"
Helen blickte ihren Mann eine Weile nachdenklich an. „Ich habe sie ja nicht
mehr kennengelernt, eure 'Unke'. Aber kannst du dir wirklich vorstellen,
dass deine Mama so eine Schreckensherrschaft inszeniert? Ich eigentlich
nicht."
Jetzt überlegte Thomas: „Nein, ich eigentlich auch nicht. Aber wenn sie
die Kinder total verwöhnt und über die Stränge schlagen lässt, dann ist
mir das auch nicht recht."
„Nun übertreib mal nicht so", protestierte Helen. „Selbst wenn sie die
Kinder verwöhnt, was soll das in den paar Tagen schon ausmachen? Von mir
aus können sie ruhig allen möglichen Unfug treiben, wenn es der Mama nicht
zu viel wird. Die Hauptsache ist, dass ein Erwachsener da ist, falls ein
Kind krank wird oder etwas Unvorhersehbares geschieht. - Angeboten hat
sie es uns schon öfters, und kannst du dir nicht vorstellen, dass ich herzlich
gerne mal ein paar Tage ohne Kinder verbringen möchte? Und auch mal am
Damenprogramm teilnehmen?"
Thomas musste lächeln. „Darauf reitest du aber jetzt ganz schön herum!
übrigens, wie war das denn mit deiner Großmutter? Oder hattest du zwei?"
„Erlebt habe ich nur eine, auch die Mutter meiner Mutter. Und die Erfahrungen,
die ich und meine Geschwister mit ihr gemacht haben, waren genau umgekehrt
wie eure.
Lass dir erzählen! Sie hatte ein kleines, gemütliches Haus in einem Ostseebad,
und ich kann mich nicht erinnern, dass sie mal länger bei uns war oder gar den
Haushalt geführt hat. Weihnachten oder so kam sie für ein paar Tage, aber die
Hauptsache war, dass wir in den Ferien zu ihr durften. Und da waren wir Kinder
aus unserer Familie nicht alleine, da waren meist auch noch ein paar Vettern
und Kusinchen bei ihr abgestellt. Man wusste vorher nie, wer sonst noch da
sein würde. Aber nett waren sie alle. Teils älter, teils jünger. Wir waren
immer eine ganze Horde, wenn wir an den Strand zogen. Jeden Sommer hatte
Großmutter einen Strandkorb gemietet, und da saß sie dann meist mit einer
Handarbeit und passte auf, dass wir nicht zu lange im Wasser blieben. 'Deine
Lippen sind ja schon blau, komm, rubbel dich ab und zieh dir was Trockenes
an!' Das höre ich sie heute noch sagen."
„Und wo war der Großvater?" fragte Thomas interessiert. Nach Helens
Großeltern hatte er noch nie gefragt.
„Großmutter muss schon lange Witwe gewesen sein", antwortete Helen.
„Mich mochte sie besonders, weil ich genau so eine Leseratte war wie sie.
Sie gab mir immer Bücher aus ihrem Bücherschrank, aber zum Vorlesen hatte
sie immer modernere Sachen. Die holte sie aus der Bücherei für uns. Wer von
uns wollte, durfte mitgehen und sich selber ein paar Bücher aussuchen."
„Also hast du deine Großmutter geliebt?" fragte Thomas nun, fast ein
bisschen verlegen.
„Ach, sehr, sehr! Als sie starb, war ich siebzehn und habe tief um sie
getrauert. Und weißt du", wandte sie sich nun ganz lebhaft Thomas wieder
zu, „ich wünschte es unseren Kindern so sehr, dass auch sie ein gutes
Verhältnis zu ihrer Großmutter fänden. Das ist etwas sehr Schönes, und
vielleicht legt unsere kurze Abwesenheit den Grundstein dafür."
„Wenn alles gut geht, muss es ja auch nicht das letzte Mal sein", stimmte
Thomas zu. „Glaub nicht, dass ich dir dies Stückchen Freiheit missgönne!
Vielleicht wird das für euch beide so eine Art 'Damenprogramm'."
Barbara S. Wackernagel