Die St.-Victor-Kirche zu Schwerte

Teil I: Vom Ursprung der Kirche und ihrer Baugeschichte



Blick auf St.-Viktor über den Garten des Hauses Schwerte

Unstreitig ist die St.-Victor-Kirche das charakteristische Wahrzeichen Schwertes und zugleich das älteste Baudenkmal der Stadt. Erscheint die Kirche heute dem Betrachter architektonisch wie aus einem Guss, so ist sie in Wahrheit ein „bauliches Konglomerat" aus fünf Jahrhunderten und ihren Baustilen. In mindestens 5, vermutlich aber 6 Bauphasen, vom 12. bis zum 16. Jhdt., erwuchs sie aus einer kleinen romanischen, zur großen spätgotischen Hallenkirche mit drei gleich hohen Schiffen zu je drei Jochen, und vorgebautem Turm. Alle diese Bauphasen lassen sich noch heute im Mauerwerk und den Fundamenten erkennen.

Ehe wir uns in dieser ersten Folge mit der Baugeschichte von St. Victor beschäftigen, einige Sätze zu ihrem Ursprung.

Nach der bisherigen Auffassung gilt sie als eine Gründung des St.-Victor-Stiftes Xanten, dessen Pröpste bis ins 16. Jahrhundert das Patronats- und Collationsrecht über die Kirche besaßen. Danach soll der erste Kirchenbau „um 1150" entstanden sein; als Hofeskirche, ohne Pfarrkirchenstatus, der Xantener „curtis Swerte", dem „Hof (zu) Schwerte", einem Fronhofverband (Villication) von vermutlich 50 - 60 Höfen in und um Schwerte, unter der Vogtei der Grafen von Kleve, als Erbvögten des Stiftes.

Diese curtis swerte wurde etwa um 1030 von einer hochadligen Dame namens Reginmuod, Reinmod oder Richmoth, auch Imeza oder Emeza genannt, dem Stift Xanten übereignet. Hierüber berichtete ich schon in Folge 1 meiner Reihe: Vom Werden der Stadt Schwerte, in Heft 36, September 1996. Es gibt hier aber zwischenzeitlich einiges nachzutragen. Hierüber näheres in einem anderen Bericht.

Die St.-Victor-Kirche, als Hofeskirche der Xantener curtis swerte, erhielt vermutlich um 1200 den Status einer Pfarrkirche. So ist in einer Urkunde von 1213 erstmals von der „parochia Swirte", der Pfarrei Schwerte die Rede, zu der nunmehr auch die zur curtis sverte der Grafen von Altena gehörigen Bauern zählten. Das Gleiche dürfte auch für die in und um Schwerte siedelnden Bauern der Abtei Werden, unter der Vogtei der Grafen von Altena, gelten. Die ursprünglich große Ausdehnung des Schwerter Kirchspiels dürfte auf die hiesigen Xantener Besitzverhältnisse zurückzuführen sein.

Mittlerweile halte ich auch den Bericht über die Ausgrabung in der Kirche von 1996 in Händen, als dessen Verfasser Dr. Martin Salesch, vom Westf. Museum für Archäologie, Amt für Bodendenkmalpflege, Münster, verantwortlich zeichnet. Hierin nimmt er auch Bezug auf die Grabungen 1939 (Spiegel) und 1970 (Dr. Lobbedey).

Nach Dr. Salesch gliedert sich die Baugeschichte der St.-Victor-Kirche in 5 Bauphasen, die er wie folgt nachweist:


Grundriss der St.-Victorkirche nach Martin Salesch

1. Aufgedeckt wurden die Fundamentreste einer kleinen Hallenkirche mit etwas eingezogenem Rechteckchoransatz, in einer Stärke von 1 - 1,1 m, aus flach liegenden Bruchsteinen. Die Halle, in der Breite des heutigen Mittelschiffes, maß 6 x 12 m lichte Weite. Salesch hält diese Hallenkirche für den ältesten Bau und datiert ihn in das 11. Jhdt. Aufgrund des Victorpatroziniums glaubt er an eine Gründung durch das Stift Xanten.

2. Bauphase II beinhaltet den Anbau eines Querhauses, nebst Neubau des Chores. Letzterer auch nur im Ansatz feststellbar. Das Fundament in einer Breite von 1,25 - 1,40 m, besteht aus flach liegenden Bruchsteinen. Salesch datiert Querhaus und Choransatz ins 12. Jhdt.

3. In Phase III erfolgte der Ausbau zur romanischen Hallenkirche von 2 Jochen, mit einem Chorraum in Mittelschiffbreite; auch dieser wieder nur im Ansatz erkennbar. Er wird beidseitig flankiert von 2 Nebenaltarwandabsiden. Zeitstellung: 2. Hälfte des 13. Jhdts. Diese Umbaumaßnahme bildet, nach Salesch, den Kern des heutigen Kirchenhauses und ist im Außenmauerwerk anhand des verwendeten Steinmaterials und der Trennfugen ablesbar.

Nachtrag: Soweit an den Fundamenten erkennbar, stand der Chorraum leicht schräg zur Längsachse der Vorgängerkirche, als auch zum heutigen Kirchenhaus. Seine Längsachse ist um einige Grad nach Süden gekippt. Dies hat seinen Grund darin, dass weder der Vorgängerbau noch die heutige Kirche exakt geostet sind, sondern um einige Grad nach Ost-Nordost aus der Richtung laufen. Man hat dies offenbar durch die Schrägstellung des Chores auszugleichen versucht.

4. In Bauphase IV erfolgte der Bau des gotischen Kirchturms und die Verlängerung der Seitenschiffe um ein Joch nach Westen. Gleichzeitig wurden auch die Strebepfeiler beider Längsseiten gesetzt (was meines Erachtens auf eine erst jetzt erfolgte gotische Einwölbung der Kirche hindeutet, da die geringe Wandstärke von einem Meter kaum auf Dauer den ungeheuren Druckkräften der Gewölbe standgehalten hätte). Außerdem wurde die romanische zur gotischen Hallenkirche umgestaltet, gut ablesbar an den vermauerten rundbogigen Fenstern an der Nordseite des ehemaligen Querhauses, die durch ein großes gotisches Spitzbogenfenster ersetzt wurden. Diese Baumaßnahme datiert Salesch in die erste Hälfte des 15. Jhdt.

5. Die Bauphase V beinhaltet die Errichtung des gotischen Chores. Baubeginn 1508, nach dem Grundstein in einem Strebepfeiler. Als Abschluss kann man die Aufstellung des goldenen Antwerpener Flügelaltars von 1523 ansehen. Die nördlich an das Chor angebaute Sakristei wurde später errichtet.

Diese Gliederung in fünf Bauphasen bedarf aber noch einiger ergänzender Bemerkungen.


Grundriss der Salvatorkirche in Paderborn

Zu 1.

Nach den Fundamentresten der kleinen Hallenkirche zu urteilen entspricht sie dem Typ der Karolingischen Taufkirchen des 8. und 9. Jahrhunderts, wie sie u.a. die Salvatorkirche, der Urbau der heutigen Abdinghofkirche in Paderborn repräsentiert. Sehen Sie hierzu die abgebildeten Grundrisse und die Rekonstruktion der Salvatorkirche. Hieraus aber auf eine karolingische Gründung schließen zu wollen ist nicht statthaft, da Kirchen dieses Typs als Eigenkirchen des westfälischen Adels noch im 11. Jahrhundert errichtet wurden.

Insbesondere „unsere Reginmuod" hat sich in dieser Hinsicht hervorgetan, als sie im Jahre 1030, mit Hilfe des Bischofs Siegfried von Münster, allein im Bistum Münster 7 solcher Eigenkirchen gründete. Demnach käme sie durchaus auch als Stifterin der Schwerter Kirche in Betracht. Das St.-Victor-Patrozinium ist meines Erachtens kein zwingender Beweis für eine Gründung durch das Stift Xanten, da Patrozinienänderungen oftmals vorgenommen wurden. Jedenfalls ist das Gründungsdatum der „Schwerter Urkirche" zur Zeit nicht zu ermitteln. Sie dürfte allerdings als Hofeskirche der curtis swerte schon vor deren übertragung an Xanten bestanden haben, zumal ein hölzerner Vorgängerbau nicht auszuschließen ist.

Rekonstruktion der Salvatorkirche in Paderborn

Zu 2.

Die Erweiterung der kleinen Saalkirche, durch den Anbau eines Querhauses (Joch III), und Neubau des Chores, zur Kreuzkirche, in Phase II, zeigt einen, in der Grabung von 1939 (Spiegel) festgestellten Befund der Fundamente des südlichen Querhauses, auf die aber in der Eintagesgrabung 1996 nicht eingegangen werden konnte. Der Schwerter Pfarrer Paul Ohlig berichtete darüber in seiner 1939 herausgegebenen Schrift „St. Victorkirche und ihre Kunstschätze":


Die Bauphasen der St.-Viktorkirche nach R.Stirnberg

„Bei der Neuanlage der Heizung 1939 wurde die Art der Anlage des Fundaments der Außenmauern durch den Museumsleiter, Herrn Spiegel, festgestellt: Im gewachsenen Lehmboden war eine Packlage hochkant gestellter Steine in drei Schichten 1,10 m hoch aufgerichtet. Darüber befand sich bis zum Fußboden ein 90 cm hohes, aus flachgelegten Bruchsteinen errichtetes Mauerwerk. (Nur diese Schicht wurde von Salesch aufgedeckt) Die unterste in den Lehm gestellte Packlage hat zeitweise 70 cm tief im Grundwasser gestanden. Das Fundament der Außenmauer und des Kanzelpfeilers hatte unter dem Seitenschiff ein gemeinsames, offenbar zusammenhängendes, offenbar gleichzeitig gebautes Fundament, vielleicht noch von einem ersten Bau stammend, der hier stand, von dem aber höchstens Mauerreste in den Neubau eingebaut sein können."

Dieser Text bezieht sich eindeutig auf das Fundament des südlichen Querhauses der Bauphase II. Fundamente aus hochkant gestellten Bruchsteinplatten hatten die Aufgabe die Kapillarwirkung der Steine zu verringern, d.h. das Ziehen von Feuchtigkeit aus dem Boden zu verhindern. Das aufgehende Mauerwerk einer Kirche konnte so trocken gehalten werden. Auffällig bei St. Victor sind aber drei Packlagen übereinander, ohne trennende Schichten aus flach gelegten Plattenreihen. Wäre dies bei St. Victor der Fall gewesen, Paul Ohlig hätte es gewiss vermerkt.

Zu 3.

Erweiterung Nordseite, Joch IV (Phase III a)

Der von Salesch erschlossene Ausbau der Kreuzkirche (Phase II) zur romanischen Hallenkirche (Phase III) und ihre Zeitstellung in das späte 13. Jhdt. erscheint mir nicht schlüssig.

So bestehen hinsichtlich des verwendeten Steinmaterials, als auch der verschiedenen Mauerstärken der Außenwände der Joche II und IV gravierende Unterschiede. Hinzu kommt noch die offensichtliche Mehrperiodigkeit der Nord- und Südwand von Joch IV, mit ihren sich überschneidenden Rund- und Spitzbogenfenstern, die m.E. erheblich älter zu sein scheinen als die Wände des Joches II; deutlich ablesbar im Mauerwerk der nördlichen Außenseite. So steht hier das gotische Spitzbogenfenster des Joches II deutlich erkennbar im Mauerverbund der Außenwand. Es wurde nicht nachträglich eingebrochen wie in die Wand von Joch III, dem ehemaligen Querhausanbau, wobei die beiden kleinen romanischen Rundbogenfenster abgeschnitten und vermauert und ein vermutlich mittig überhöhtes Fenster zerstört wurden.


Erweiterung Nordseite, Joch II ( Phase III b)

Die Außenwand von Joch II wurde offensichtlich, zumindest ab Unterkante des Fensters, erst in gotischer Zeit hochgezogen. Eine Zeitstellung dieser Wand in das späte 13. Jhdt. erscheint mit unwahrscheinlich.

Ich halte es für viel wahrscheinlicher, dass sich der Ausbau zur romanischen Hallenkirche über mehrere Zwischenstufen vollzog. So halte ich eine basilikale Erweiterung der Kirche im Bereich des Joches IV, mit hohem Mittelschiff und zwei niedrigeren Seitenschiffen, im frühen 13. Jhdt. für möglich (Phase III a), die vielleicht auch im Bereich des Joches II mit zeitlichem Abstand durchgeführt wurde (Phase III b).


Ehemaliges Querhaus, Nordseite (Phase II)

Denkbar wäre auch, dass man Ende des 13. Jhdt. den Bereich der Joche III und IV zur Halle erweiterte (Phase III c), zu der im 14. Jhdt. auch der Bereich des Joches II ausgebaut wurde. Ich habe diese möglichen Bauphasen einmal darzustellen versucht.

Zu 4.

In der ersten Hälfte des 15. Jhdts. erfolgte höchstwahrscheinlich die Westerweiterung der Kirche (Joch I), der Bau des Kirchturms und die gotische Einwölbung der Kirche, wie die erst jetzt gesetzten Strebepfeiler vermuten lassen (Phase IV). Möglicherweise wurden hierbei die bis dato noch erhaltenen romanischen Fenster durchgängig durch gotische ersetzt.


Rekonstruktionsversuch, links Phase III a und III b

Zur Phase V sind keine Bemerkungen notwendig.

Wenn auch die Baugeschichte der St. Victorkirche heute in ihren Grundzügen geklärt ist, so bleiben doch etliche Fragen offen, die vielleicht erst in einer kunsthistorischen Untersuchung des Bauwerks zu beantworten sind.

In der Dezemberausgabe unserer Zeitung berichte ich über die Ausstattung der St.-Victor-Kirche und ihre Kunstschätze.

Reinhold Stirnberg