* * * * * Flugspiele * * * * *
Ununterbrochen rollte der Berufsverkehr in beiden Richtungen auf der
engen Straße. Die langen, dröhnenden Schlangen aus LKW, PKW,
Motorrollern und Bussen schienen endlos. Zwischen den mit Buschwerk und
einigen hohen Bäumen bestandenen Böschungen verlief die
Straße in einer leichten Linkskurve abwärts zur
Eisenbahnunterführung. Das Jahr war noch jung, so dass der Bewuchs noch
nicht die sommerliche dichte Mauer aus allerlei Blattwerk seitlich der
Straße bildete. Nur zarte hellgrüne Blättchen saßen an
den Zweigen. Die Sonne schien hell darüber und am blauen Himmel zogen
wenige Wolken wie kleine Wattebäusche mit rosigen Rändern.
Ein Meisenpärchen flatterte übermütig neben der
Straße durch das Gehölz von Zweig zu Zweig. Ein Tier flog voraus,
das andere folgte flink in kurzem Abstand. Doch kaum hatte es einen Platz
neben seinem Partner im Gebüsch eingenommen, entkam dieser mit lauten
Lockrufen auf einen weiter entfernten Zweig, natürlich stets darauf
bedacht, dass die andere Meise bestimmt folgen konnte.
Ihr verliebtes Zwitschern ging im Verkehrslärm fast unter. Sie
genossen es, nach der aufregenden Zeit des Werbens und Aussuchens gemeinsam
unterwegs zu sein. Froh sich gegenseitig gefunden zu haben und frei von der
Angst, bei der Partnersuche leer auszugehen. Er hatte ihr den Nistplatz
präsentiert, sie hatte Gefallen daran gefunden und in diesem Jahr
würden sie eine Familie werden. Zusammen galt es dann die anstrengende
Zeit mit ihren ewig hungrigen Küken zu überstehen, die ungeduldig
nach Nahrung verlangen würden. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang
ununterbrochen auf der Jagd nach Insekten würden sie die Gegend
durchstreifen und die Beute zur Bruthöhle bringen, um sie in die weit
geöffneten, gelbrandigen Schnäbelchen zu stopfen. Sie würden
Unmengen Kotballen forttragen und bei kühlem Wetter und in der Nacht
die Kinder mit ihren Körpern wärmen. Vielleicht würden sie
sogar zweimal Junge aufziehen, bevor der Sommer zu Ende ging.
Doch zunächst konnte das junge Vogelpärchen noch unbeschwert
und sorglos das zeitige Frühjahr miteinander verbringen. Dort in der
Linkskurve vor der Eisenbahnbrücke entschloss sich die erste Meise die
Straße zu überfliegen, um das lustige Spiel auf der anderen Seite
fortzusetzen. In kurzem Abstand hintereinander setzen sie ihren
Verfolgungsflug über die Dächer der rollenden Personenwagen fort.
- Jedoch: war die Flughöhe zu niedrig gewählt? War das zweite
Vögelchen zu langsam?
Es prallte gegen die Windschutzscheibe eines orangeroten
Containertransporters, wurde auf den Asphalt geschleudert und verschwand
zwischen den breiten Reifen unter dem Fahrzeug. Die vorausfliegende Meise
lenkte entsetzt ihre Flugbahn steil nach oben, flatterte über dem
brausenden Verkehr. Da kam das andere Tier zwischen den rollenden Autos
unten auf dem Boden kurz zum Vorschein. Es lag dort auf der Seite auf dem
kalten Straßenbelag. Verzweifelt steuerte der kleine Flieger zwischen
die Fahrzeuge hinunter, konnte in letzter Sekunde einem Auto ausweichen,
wurde auf der Gegenfahrbahn beinahe von einem Bus erfasst. Er flatterte
wieder hoch, schaute von oben auf das Geschehen und suchte die Meise dort
unten zu erreichen. Eine größere Lücke zwischen zwei Autos
gab ihm die Chance einmal neben dem winzigen Körperchen auf der
Fahrbahn zu landen. Doch es schaute nicht, antwortete nicht auf die
ängstlichen Rufe. Zwei Sekunden blieben dem verwitweten Vogel, bis ein
dröhnender LKW ihn zwang, aufzufliegen, hinüber in die
Sträucher auf einen Zweig mit zarten, blaßgrünen
Blättern.
Birgit Meyer