Wenn sich der erste Weihnachtstag dem Abend zuneigt und die dunkle Winternacht sich niedersenkt, beginnt nach der Vorstellung unserer Vorväter die unheimlichste Zeit im Jahreskreis. Es sind die sogenannten "Zwölf Nächte", auch "Rauh- oder Rauchnächte" genannt, die Nächte zwischen Weihnachten und dem Dreikönigsfest.

Nach dem Glauben aller Germanischen Völker, von Skandinavien bis England, gingen in dieser Zeit die Götter und Dämonen über das Land, oder brausten in "Wotans wilder Jagd", dem Totenheer, im Sturmwind über die Wolken dahin. Vor diesem Schrecken galt es sich zu schützen, durch peinliche Beachtung verschiedener Bräuche und Riten. Während dieser unheimlichen Zeit durfte kein Wagen fahren, kein Spinnrad sich drehen, keine Wäsche gewaschen, kein Brot gebacken werden.

Man blieb zu Hause, oder lud sich Freunde ein, um den Schutz des Hauses noch zu verstärken, und die Götter und die Toten durch Opfergaben bei feierlichen Gastereien gnädig zu stimmen. Bei Einbruch der Dunkelheit ging der Bauer durch das Haus und räucherte die bösen Geister aus; daher der Name Rauh- oder Rauchnächte. Das Abbrennen von Räucherkerzen in den heute so beliebten erzgebirgischen Räuchermännchen, in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, hat hier seinen Ursprung, ohne daß man noch davon weiß.

Wenn draußen "Wuotes her", oder "Wutanes her", durch die Winternächte brauste, versuchte man sich und sein Haus durch zaubermächtige Verse vor der "Wilden Jagd" zu schützen, wie ein Beispiel aus dem Harz belegt:

"Min Kind, dat is ne böse Nacht,
min Kind, dat is de wille Jagd;

en vadderunser, drei Krieze an´t dor -
gottlof, nu sind we sicher davor!

Nu Kann de Schpauk tau uns nich ´rin,
nu legg deck to bedde, min Kind, schlap in."

Wotan, als Anführer des Totenheeres und in Begleitung von Dämonen in Tiergestalt, ist in christlicher Zeit zum anonymen "Wilden Jäger" geworden, auch der "Ewige Jäger" genannt. Mitunter wurde er auch durch historische Personen ersetzt. So zum Beispiel durch den braunschweigischen Jägermeister Hans von Hackelberg (+ 3. März 1581), der auch in Westfalen bekannt war. Die Volkssage machte ihn zum wilden Jäger, der auf einem Schimmel mit Gefolge und kläffenden Hunden durch die Winternächte jagte.

Während im nördlichen deutschsprachigen Raum in der Volkssage der männliche Wilde Jäger dominiert, so beherrscht im Süden eine weibliche Gestalt die Lüfte. So braust in Österreich und Süddeutschland die "schiache Percht" durch den Wintersturm.

Perchte = Berchte, die Norddeutsche Frau Harke, oder Frau Gode, gleichbedeutend mit der Hessischen Frau Holle, stehen hier für Frigga, der Gattin des Sturmgottes Wotan.

Als "schiache Percht" symbolisiert sie den unheilstiftenden Aspekt der Göttin. Ihr gegenteiliges segenspendendes Wesen ist die "Gute Frau Berchtel" oder "Frau Holda".

Als Gemahlin Wotans war sie Herrin des Wetters und besaß die Macht durch Regen und Sonnenschein die Fruchtbarkeit der Feldfrüchte zu gewährleisten. Diese Dualität des Wesens finden wir auch bei Wotan. Einerseits ist er der zerstörerische "Wilde Jäger", andererseits aber auch der Gabenspendende "Schimmelreiter".

Bei den "Perchtenläufen" in Süddeutschland, einer symbolischen Nachstellung der "Wilden Jagd", zu Weihnachten, Neujahr und Fastnacht, werden beide Aspekte des Gottes und der Göttin durch Masken dargestellt. Der "schiachen Percht", mit Zottelfellkleid und Teufelsmaske, sowohl als weibliche, wie auch männliche Figuren, stehen die gleichfalls männlichen wie weiblichen gabenspendenden "Schönperchten" gegenüber.

Im norddeutschen, westfälischen Mythos der Wilden Jagd tritt jedoch die Göttin hinter der Gestalt Wotans zurück, ohne jedoch völlig zu verschwinden. So finden wir z.B. als Begleiter des Wilden Jägers Hackelberg einen weiblichen Dämon, in Gestalt einer Eule, der "Tutursel".

Die Erscheinung der "Wilden Jagd", die man mit plötzlich auftretenden, aber nur kurz währenden Herbst- oder Winterstürmen erklären kann, beschränkt sich in der ehemaligen Grafschaft Mark keineswegs nur auf die "Zwölf Nächte", sondern scheint auch das Jahr über nachts aktiv gewesen zu sein. Der verstorbene Heimatforscher Walter Ewig hat die Berichte über das Erscheinen der Wilden Jagd gesammelt und in seinem 1956 herausgegebenen Buch: Zwischen Lenne und Hönne, Volksbräuche und Überlieferungen aus dem Kreise Iserlohn, veröffentlicht.

Die unheimlichen Begegnungen von Personen mit der Wilden Jagd sind danach überwiegend rein akustische Erlebnisse, von denen ich hier einige wiedergebe:

Vor einigen Jahren (im 19. Jhdt.) war ein Mann aus Saat bei Lössel (Iserlohn-Grüne) des Nachts auf einem einsamen Weg noch unterwegs. Die Nacht war still und kein Lüftchen regte sich. Doch plötzlich kam ein starkes Brausen daher, und über ihm hallte gellender Hörnerklang, johlendes "Juhu" und "Ho´ rud´ ho". Rauhes Gekläff einer Hundemeute und Peitschengeknalle.

Eine weitere Begegnung hatte eine alte Frau aus Eilringsen (Dröschede). Spät abends trat sie noch vor das Haus. Draußen war alles ruhig. Doch urplötzlich setzte ein Sturm ein, so stark, daß die Bäume sich bogen und eine Pappel entwurzelt wurde. Die Frau mußte sich festhalten, um nicht zu Boden geschleudert zu werden. Und mitten im Wüten des Sturmes hörte sie Hörnerklang, Hundegebell und gellendes Juchen. Doch so schnell wie die Erscheinung auftrat, war sie auch wieder verschwunden.

Ein ähnliches Erlebnis konnte ein Wilddieb aus Dröschede vermelden, der sich nachts auf einsamer Höhe, welche "Blautmegge" heißt, auf Wild angestellt hatte. Ringsum herrschte Totenstille und hell schien der Mond. Da hörte er in der Luft ein brausendes Geräusch, das so mächtig anschwoll, dass sich der Mann unwillkürlich zusammenduckte, als das Getöse über ihm hinwegzog.

Das solche Erscheinungen nicht auf die überreizte Phantasie der Augenzeugen zurückgehen, konnte ich vor einigen Jahren selbst feststellen. Es war eine kühle Herbstnacht und ich befand mich außerhalb meines Dienstgebäudes auf dem Höhenrücken des Haarstranges. Es war absolut windstill, als plötzlich aus heiterem Himmel starker Wind einsetzte, der zum Sturm anschwoll. Inmitten des brausenden Windes vernahm ich deutlich ein Heulen, Wimmern und Brummen, das an- und abschwellend zuerst nicht zu orten war. So schnell wie der Sturm gekommen war, verschwand er auch wieder und mit ihm auch alle unheimlichen Geräusche. Wie ich später bei anderen Stürmen feststellen konnte, verursachte diese Geräusche eine Antenne unseres Sendeturmes, die bei einer bestimmten Windrichtung in Schwingungen versetzt wurde und diese Töne erzeugte. Inwieweit dabei auch noch ein abstehendes Blech der Dachhaut eines Nebengebäudes beteiligt war, wage ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls waren alle Geräusche natürlichen Ursprungs.

Jedenfalls dürften die unheimlichen Töne, die unsere Vorfahren so erschreckten, auf die Vibrationen von Dachschindeln, Zäunen und hohlen Bäumen im Sturmwind zurückzuführen sein.

Auch das plötzliche Auftreten und Verschwinden dieses Sturmwindes dürfte sich durch besondere meteorologische Verhältnisse erklären lassen, von denen unsere Ahnen freilich nichts wußten. Für sie war es Wotans Wilde Jagd, die in den spukhaften Zwölf Nächten durch die Lüfte hetzte und die Menschen zum Erschauern brachte.
Reinhold Stirnberg