Kindheit auf dem Lande
Dui nit! (Du nicht!)

Immer wieder sind es diese zwei Worte. Sie kleben an ihr wie ein weggeworfenes Kaugummi, das jetzt unter ihren Sohlen pappt. Sie wird sie einfach nicht mehr los. Sie engen sie ein in einen Panzer von Geboten und Verboten und feststehenden Grundsätzen. So lehrte man sie sich anzupassen und zu schweigen. Vor allen Dingen zu schweigen! Sie war noch ein Kind. Und ein Mädchen dazu. Es blieben ihr nicht viel Möglichkeiten die Flügel zu strecken. Damals war das eben so. Aber wo und wann war es eigentlich, als sie diese Worte zum ersten Mal hörte?

Sie erinnert sich:

Es war Herbst - Erntezeit. Sie saß mit Mädchen und Jungen aus dem Dorf auf dem Feld am Kartoffellaubfeuer und briet die kleinen Kartoffeln, die ganz köstlich schmeckten. Aber heiß waren sie - unangenehm an den zarten Fingerspitzen. Sehr vorsichtig muß man mit ihnen umgehen. Für einen Augenblick war sie unachtsam und verbrannte sich.

"Scheiße! Scheiße!" schrie sie wütend, warf die Kartoffel fort und kühlte sich die Fingerspitzen an ihren Ohrläppchen. Eine schnelle und altbewährte Hilfe.

Da fielen diese beiden Worte sanft, und dennoch schwer wie Blei auf das Kind herunter und ließen es erschrocken verstummen.

"Die Jungen sagen das ja auch", entschuldigte es sich. "Aber Dui nit!"

Der alte Schäfer hatte sie gesagt, der bei den Kindern stand und ihnen ruhig zuschaute. Er war ein Schäfer wie aus dem Bilderbuch: Groß, gutmütig und schweigsam. Schweigsam wie alle Menschen, die eng mit der Natur und den Tieren leben. Sie machen nicht viel Worte. Und darum hat alles, was sie sagen, besser gesagt, das Wenige, was sie sagen, doppeltes Gewicht.

Die Schafe grasten auf dem Stoppelklee. Und die Hunde hielten sie pflichtbewußt zusammen. Da hatte der Schäfer Zeit, den Kindern zuzuschauen. Er mochte sie - und sie ihn.

Ein Philosoph war er - dieser Alte. Und was er sagte, galt auch für die Kinder. Besonders für das kleine Mädchen. Er hätte mit erhobenem Zeigefinger ihr eine lange Rede über Anstand und freundliche Rede halten können. Über das, was ein Mädchen tun und sagen darf, und was nicht. Es hätte bestimmt nur mit halbem Ohr zugehört, weiter ihre Kartoffeln gebraten, und die Predigt schnell wieder vergessen.

Aber dieses kurze "Dui nit" haftete fest an ihr, wie die Kletten in ihren Haaren, mit denen die Jungen sie oft bewarfen. Die Klettenbällchen waren kaum wieder zu entfernen. Irgendwo saß immer noch ein kleiner Rest dieser häßlichen Stacheln und erinnerte sie an die schmerzlichen Untaten.

So war und ist es auch mit dem "Dui nit". Es klebt und haftet fest an ihr - bis heute! Der Schäfer hatte ja nur mit knappen Worten ausgesprochen, was die Meinung der Erwachsenen war, die zu ihrem Lebenskreis gehörten. Und das nur mit besten Hintergedanken. So war das damals eben.

Längst ist das Mädchen selber Frau und Mutter. Und das Auf und Ab in ihrem Leben haben schmerzliche Spuren hinterlassen. Ganz sicher wäre manches ganz anders gelaufen, hätte ihr dieses "Dui nit" nicht oftmals die Flügel gestutzt. Aber ebenso sicher ist es auch - das gesteht sie sich ehrlich ein - daß diese beiden Worte sie oftmals vor unbedachten Schritten, und somit vor zusätzlichem Kummer, bewahrt haben.

Johanna Weishaupt