Irre 10 Minuten
von Carmen Lange

Meine Tochter Tatjana und mein Enkel Nicolas sind heute mit vielen jungen Müttern aus dem Kindergarten in einem Reisebus für eine Woche in den Schwarzwald gefahren. Stellt Euch mal vor, ich nehme mir vor Arbeitsbeginn eine Stunde frei, nur um zu winken.

Alles paßt; Nico hat seinen kleinen Rucksack mit Krimskrams und ist stolz wie Oscar, als ich ihm noch Taschengeld gebe, ein Buch, eine geheimnisvolle Überraschungstüte und ein paar Süßigkeiten. Er verstaut alle diese wichtigen Dinge natürlich in seinen Mini-Rucksack.

Ach, war das aufregend. Unsere Liebe fließt heftig von beiden Seiten. Küßchen rechts, Küßchen links, ich hab dich lieb, viel Spaß, paßt auf euch auf. Er strahlt und steigt erwartungsfroh in den Bus. Dann endlich ist es so weit; der Bus fährt ab.

Er fährt an unserem belebten Dortmunder Hbf vorbei, ich winke. Er biegt nach einiger Zeit in eine sanfte Rechtskurve, ich winke wie verrückt. Nun kann ich den Bus nicht mehr sehen und winke trotzdem noch bis ganz bis zum Schluß, ich stehe wie ein Baum, doch nun ist der Bus wirklich außer Sichtweite, ich winke immer noch. Mein kleiner Enkel hat mich sicher lange vorher schon nicht mehr gesehen.

Langsam drehe ich mich um, und das blanke Entsetzen steht in meinem Gesicht. Was liegt wohl in dem Wartehäuschen? Ein kleiner roter Rucksack.

Fast bleibt mir der Verstand stehen, was selbstverständlich nicht passiert ist, wie Ihr gleich lesen könnt. Auf jeden Fall kommt Bewegung in die Oma. Den Rucksack greifen, zu meinem Auto rennen, Tür aufschließen, mich reinschmeißen, es ist alles eins.

Mit angezogener Handbremse geht es los. Dies habe ich natürlich Sekunden später sofort gemerkt, denn mein Auto kam nur sehr schwer in Fahrt. Ein Zeichen dafür, daß die Bremse in Ordnung ist, ich löse sie schnell.

Rasant geht es nun bis zum Königswall - kein Bus zu sehen.

Ich denke nach, bestimmt sind sie zur B 1 - und schon Richtung Autobahn. Hah, ich hinterher. Die erste Ampel springt auf Rot um, obwohl ich schon ganz nah dran bin. Leider konnte ich das Rot nicht mehr übersehen, also Vollbremsung; und ich stehe halb auf dem Zebrastreifen. Vielleicht war ich zu schnell?

Ein Porschefahrer hupt mich an. Idiot! Dann macht er mir noch so eigenartige Zeichen. Ich?! Keine Zeit zurückzuhupen, keinen Nerv um doof zu zeigen, denn ich mußte ja gespannt auf grünes Ampellicht warten.

Dann ich los, fahre als erste an, habe alles im Griff, ein Bus ist zu sehen - mein Bus! Ach, mein kleiner Nicolas, hoffentlich weinst du nicht, Oma kommt ja schon.

Meine spontane Entscheidung fällt; bei der nächsten Ampel fahre ich auch bei Rot weiter.

Die nun folgende Ampel ist grün - Glück gehabt. Ich lasse schon mal das Fahrerfenster herunter und halte den kleinen Rucksack von meinem geliebten Enkelkind aus dem Fenster. Es könnte ja dadurch einer der mitfahrenden Urlauber auf mich aufmerksam werden.

Spätestens da hat wohl dieser total bekloppte Porschefahrer gedacht, daß ich der Idiot sei - wie der sich so aufführt -!

Fährt total dicht auf, dabei noch unkontrolliert hin und her, gibt mir Lichthupe - einfach unverschämt! Statt dass diese Burschen wie alle anständigen Leute um diese Zeit arbeiten, schleichen sie am hellen Vormittag mit ihren Nobelautos durch unsere Stadt.

Egal, ich muß Gas geben und alles im Auge behalten. Ab und zu natürlich auch noch auf den heftig fließenden Verkehr achten.

Jetzt, Achtung! Eine kleine Möglichkeit besteht neben den Bus zu kommen, vor der nächsten Ampel, die sowieso gleich umspringt auf Rot. Der Verkehr ist dort vierspurig und ich bin von der ganzen Meute auf unerklärliche Weise an der Spitze, dabei hat mein Auto bestimmt nicht die höchste PS-Zahl.

Damit mich jetzt eventuell jemand aus dem Bus bemerkt, hupe ich. Ganz sanft und rücksichtsvoll natürlich, so daß es die anderen Autofahrer nicht erschreckt. Lichthupe schaffe ich nicht, weil ich ja den Rucksack aus dem Fahrerfenster halten muß. Mittlerweile ist der Ärmel meines Blazers feucht vom Regen.

Dank meines total kühl arbeitenden Verstandes entscheide ich mich auf die Beifahrerseite des Busses zu kommen. Es ist riskant, klappt aber. Meine Tochter sehe ich einen winzigen Moment oben aus dem Busfenster schauen - was mein Blick so alles erfaßt, toll. Da ich mit voller Konzentration ein etwas kleineres Auto abdrängen muß, kann ich nicht mehr mit dem Rucksack winken.

Hoffentlich haben sie mich trotzdem gesehen.

Der Busfahrer hält netterweise bei Rot - als erster, vor einer letzten Ampel.

Gut, daß es in Dortmund keine echten Grünphasen gibt.

Bevor ich die vielleicht falsche Entscheidung treffe, mich vor den Bus auf die Kreuzung zu begeben, geht Gott sei Dank die große Busbeifahrertür auf und ich brauche nur noch rechtzeitig zu bremsen, damit ich nicht versehentlich auf die Kreuzung rutsche, wegen der nassen Fahrbahn meine ich.

Leichtfüßig wie ein Engel kommt tatsächlich die Begleiterin der Urlaubsfahrt, allerdings ohne mir zuzulächeln, meinem Auto entgegen. Sicher hat sie den Rucksack aus dem Fenster wedeln sehen, denn mein Auto ist eher unauffällig, es ist silberfarben, wie die Straßen. Dann nimmt sie mir mit ungläubigen Augen, einfach das wertvolle Stück Rucksack aus der Hand, steigt wieder in den Bus ein und die Fahrt geht nahtlos weiter. Irgendwie hat sie mich gar nicht beachtet. Dabei komme ich mir so toll vor.

Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmt mich. Mein süßer kleiner Nicolas, er wird in dem Rucksack eine Perlenkette aus Bonbons finden und kleine Täfelchen aus Schokolade, sowie eine Happy - Hippo - Marilyn - Monroe - Überraschungseifigur und einige für ihn unentbehrliche Kleinigkeiten mehr.

Somit wird die Fahrt für diesen geliebten, kleinen Menschen bestimmt unvergeßlich.

Wo ich jetzt so an Euch schreibe, glaube ich fast, wir hatten heute beide Glück oder einen Schutzengel.

Inzwischen ist die Ampel grün geworden, von mir allerdings etwas spät bemerkt, doch ich fahre endlich an. Zugegeben, es sah so aus, als wäre ich angefahren, weil wieder so ein Trottel - natürlich wegen irgendeiner Nichtigkeit - gehupt hat. Das Hupen konnte meines Erachtens jedoch nur für einen anderen Autofahrer bestimmt sein.

Ohne mich weiter darum zu kümmern oder aufzuregen, bin ich also weitergefahren. Niemand, hat mich aufgehalten, auch nicht die Polizei. Es sind eben heute doch nur nette Menschen unterwegs und es ist, trotz Regen, plötzlich ein wunderschöner Tag für mich.

Bestimmt bahnt sich gleich die Sonne einen Weg durch die Wolken. Mir kommt es vor, als wäre es schon etwas heller.

Zufrieden lege ich den Sicherheitsgurt an.

Allerdings sagte doch meine Tochter tatsächlich heute abend am Telefon zu mir, ich wäre jemanden in die Fahrspur und fast ins Auto gefahren. Und bei der Ralleyfahrt wären einige brenzlige Situationen gewesen. Einige Mütter hätten meine Fahrt beobachtet und sie gefragt, ob ich tatsächlich die Großmutter sei.

Sie hatten sicher alle von dem hohen Bus aus einen völlig anderen Blickwinkel und sind auch noch ein bißchen ängstlich bei ihren Autofahrten.

So um die 30 hatte ich schließlich auch noch nicht diese Fahrpraxis und mein jetziges Verantwortungsgefühl. Woher denn auch?

Tja, jedenfalls können zehn Minuten eines Tages auch so aussehen.

Also, paßt immer auf Euch auf.

Mit diesen Gedanken, wünscht Euch alles Liebe und Gute, vor allem jedoch das Wichtigste; Gesundheit.

Eure glückliche Carmen