Die Goldammer
Vogel des Jahres 1999

Auf den ersten Blick könnte man ihn für einen entflogenen Kanarienvogel halten, so schön goldgelb glänzt das Gefieder des Goldammermännchens in der Frühlingssonne. Auf einen hohen Seitenzweig einer jungen Fichte hat er sich gesetzt und singt unermüdlich immer wieder seine kurze Strophe: "Wie, wie, wie hab ich dich - liiiiiiieb!"

Natürlich haben wir Menschen ihm nur die Worte untergeschoben. Sie könnten sogar den Kern treffen, wenn er seinem viel weniger auffälligen Weibchen imponieren will. Aber dieselbe Strophe singt er auch zur Abschreckung der männlichen Konkurrenz, und dazu paßt unsere lautmalende Eselsbrücke doch nur sehr bedingt. Das stärker gestreifte und unscheinbarere Kleid des Weibchens ist Tarnung und Lebensversicherung während des Brutgeschäfts. Eine auffällige Gefiederfarbe würde beim Brüten nur die Gefahr erhöhen, von Beutegreifern entdeckt zu werden. Zur Unterscheidung von der ganz ähnlich gefärbten Verwandtschaft haben alle Goldammern, auch die Jungvögel, einen rotbraunen Bürzel.

Zur Brutzeit finden wir Goldammern am häufigsten in halboffenem, parkartigem, von Büschen und Bäumen durchsetzten Gelände, an Bauernhöfen, Feldgehölzen und Waldrändern, auf Waldlichtungen und in Schonungen. Sie meiden den geschlossenen Wald und auch das offene, deckungslose Feld. Ihr Nest baut die Goldammer gern am Boden oder in Bodennähe im Schutz dichter Büsche und Hecken. Hier legt sie ihre meist drei bis fünf hellen, sehr variabel gefärbten und dunkel gesprenkelten Eier und bebrütet sie knapp zwei Wochen lang. Die gleiche Zeit brauchen die Jungen bei kalorienreicher Insektennahrung noch einmal bis zum Ausfliegen, bevor sie dann den Speisezettel auf Körnerfutter umstellen.

Zwar ist die Goldammer noch kein seltener Vogel, aber die Bestände sind rückläufig. Ganz so dramatisch wie in Norddeutschland, in Belgien und in den Niederlanden ist es bei uns zum Glück (noch) nicht. Dort hat die Art schon ihren Platz auf der Roten Liste der gefährdeten Vogelarten. Der Rückgang hat vor allem mit der Veränderung ihres Lebensraums zu tun. In den sechziger und siebziger Jahren hat die Flurbereinigung die bäuerliche Landschaft stark verändert und von Hecken, Gebüschen und vielen für den Bauern nutzlosen aber für die Natur so wertvollen, weil unbewirtschafteten kleinen Flächen, bereinigt. Der Lebensraum für Goldammern - und nicht nur für diese - engte sich ein. Eine intensivere Bewirtschaftung der Äcker und die Auswirkungen der Technisierung in der Landwirtschaft taten ein übriges. Als die leistungsfähigen Mähdrescher kamen, verschwanden die Haufen mit Spreu an den Feldscheunen und mit ihnen die winterlichen Schwärme von Goldammern von den Feldern. Die Goldammer ist ein Beispiel für die Abhängigkeit der Wildtiere von der Art und Weise wie der Mensch mit der Landschaft umgeht.
Dieter Ackermann