Vor unserem Wohnzimmerfenster stand mein Birnbaum und in jedem Frühjahr
wartete ich darauf, daß sich die weiße Blütenpracht über das Schwarz der
Äste ausbreitete. Stand der riesige Blumenstrauß da, war ich glücklich
und traurig zugleich. Zeigten dann die ersten rostigen Stellen an,
daß die Baumblüte bald vorüber sein würde, weinte ich heimlich.

In einem Winter schneite es wunderschöne dicke Schneeflocken.
Wir Kinder saßen am Fenster und beobachteten,
wie sie vom Himmel schwebten und
Straße, Wiese und Garten zuschneiten.
An unserem Birnbaum wurden erst
die dicken Äste und langsam auch die großen und kleinen Zweige weiß.
Doch dann wurde die Luft wärmer und aus den tiefhängenden Wolken fielen
große wässrige Flocken. Die Äste bogen sich unter der Last des Schnees
immer weiter zur Erde. Mutter kam zu uns und schaute besorgt nach draußen.

"Hoffentlich hört es bald auf." Wir sahen sie verständnislos an.
Warum sollte es aufhören zu schneien.
Der Schnee schützte doch die Saat vor dem Frost.

"Viel mehr können die Äste nicht tragen", erklärte sie.

Es hörte auch bald auf zu schneien, doch als es dämmerte hörten wir ein

eigenartiges Knacken. Wir ließen Bratäpfel Bratäpfel sein, rannten zum

Fenster und starrten wie gebannt nach draußen.

Der Baum knirschte, knackte und der Ast, der im Sommer den hinteren Teil
des Gartens beschattete, brach vom Stamm. Das Gewicht des Schnees
drückte den Spalt langsam weiter auseinander und dann krachte der Ast
zur Erde. Am Baum hinterließ er einen hellen Fleck, wie eine Träne.
Jetzt brauchte ich nicht heimlich zu weinen, die anderen waren auch
traurig.

Durch den fehlenden Ast hatte der Birnbaum seine gleichmäßige Krone
eingebüßt. Trotzdem blühte er im Frühjahr und meine Gefühle waren bei
der Baumblüte genauso wie in den vergangenen Jahren.

Im Herbst kletterte Vater nicht wie sonst in den Baum.

"Wer weiß, wie morsch die anderen Äste sind. Der Baum ist schon alt."

Er lehnte die lange Holzleiter an den Stamm und erntete die Birnen nur
soweit, wie er sie mit dem Obstpflücker erreichen konnte.

Im gleichen Jahr kam im Herbst das schwere Gewitter.
Ein Blitz traf den Birnbaum und schlug zwei Äste ab.
Der Baum sah aus wie ein riesiger Rasierpinsel.

Im nächsten Jahr blieben einige Zweige kahl, standen trocken und dunkel
gen Himmel. Die Zweige, die blühten, trugen weniger und kleinere Birnen
als sonst. Gepflückt wurden sie allerdings nicht, da sie zu hoch in der
Spitze hingen. Die Vögel ließen sich die Früchte schmecken und manches
"Dankeschön" kleckerte von ihnen herab. Die Rundbank unter dem Baum war
zu dieser Zeit verwaist, denn niemand wollte von einer Birne oder einem
Vogelklecks getroffen werden.

Im darauffolgenden Frühjahr klopfte und trommelte es im Birnbaum.

"Das ist der Specht", erklärte mir Mutter. "Kuck', da am Stamm sitzt
er. Er baut ein Nisthöhle. In dem morschen Holz und unter der Rinde ist
viel Ungeziefer und er hat dadurch reichlich Futter für die Jungen."

Ich beobachtete den schwarzweißen Specht an der rissigen grauen Rinde
des Stammes und dachte an die Pflaumen- und Kirschbäume, die Uroma
gepflanzt hatte. Sie waren schon lange abgeholzt und der Birnbaum würde
bestimmt auch bald nicht mehr da sein.

Vater fällte den morschen Baum im Herbst und pflanzte einen neuen.
Der Baum ist heute groß und trägt in jedem Jahr goldgelbe Früchte.
Seine Blüten erinnern mich in jedem Frühjahr an meinen Birnbaum und die
wehmütigen Stimmungen; aber - es ist nicht dasselbe.

Birnbaum.
Gefühle beim Anblick eines blühenden Birnbaums
(WF)